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TVR 2017 Nr. 28

Sozialhilferechtliche Sanktionen / Kürzung oder Einstellung von Sozialhilfeleistungen, Voraussetzungen und Kriterien


§ 8 SHG, § 2 h SHV


Im Hinblick auf die Kürzung oder Einstellung von Sozialhilfeleistungen kommen folgende Grundlagen in Frage:

- die Sanktionierung von pflichtwidrigem Verhalten der gesuchstellenden Person, wobei eine derartige Sanktion grundsätzlich nur nach vorangehender Verwarnung und mit Wirkung für die Zukunft verfügt werden kann (E. 3.4.1 und E. 4.2);

- der Rechtsmissbrauch bzw. der missbräuchliche Leistungsbezug / Sozialhilfemissbrauch (E. 3.4.2); und

- das Fehlen / der Wegfall der Leistungsvoraussetzungen, insbesondere der Bedürftigkeit und/oder der Subsidiarität, bzw. die (vollständige oder teilweise) Beweislosigkeit bezüglich dieser Voraussetzungen (E. 3.4.3).

Im vorliegenden Entscheid werden die Voraussetzungen und Kriterien für die unterschiedlichen sozialhilferechtlichen Sanktionen umschrieben.


Im Entscheid VG.2016.11/E vom 15. Dezember 2016 umschreibt das Verwaltungsgericht die Grundlagen/Voraussetzungen für die Kürzung oder Einstellung von Sozialhilfeleistungen.

Aus den Erwägungen:

3.
3.1 (…)

3.2 Gemäss § 8 SHG sorgt die Gemeinde für die notwendige Unterstützung, wenn jemand nicht über hinreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes für sich und seine Angehörigen mit gleichem Wohnsitz verfügt, sofern vom Hilfsbedürftigen nicht verlangt werden kann, sich die Mittel durch eigene Arbeit zu beschaffen, und keine andere Hilfe möglich ist (Subsidiaritätsprinzip; vgl. hierzu Hänzi, Die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, Basel 2011, S. 113 f., sowie Wizent, Die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Ein Handbuch, Zürich/St. Gallen 2014, S. 228 ff.). Für die Bemessung der Unterstützung gemäss § 8 SHG finden laut § 2a Abs. 1 Satz 1 SHV in der Regel die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) Anwendung. Die SHV enthält diesbezüglich Konkretisierungen, die ergänzend massgebend sind (§ 2a Abs. 1 Satz 2 SHV). Die Unterstützung setzt sich aus der materiellen Grundsicherung und bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen zusätzlich aus situationsbedingten Leistungen, aus Integrationszulagen und/oder aus Einkommens-Freibeträgen zusammen (§ 2a Abs. 2 SHV). Die Höhe der materiellen Grundsicherung (Grundbedarf für den Lebensunterhalt, Wohnungskosten und Kosten für die medizinische Grundversorgung) bemisst sich in der Regel ebenfalls nach den SKOS-Richtlinien (§ 2b Abs. 1 SHV). Abweichungen sind zu begründen (§ 2b Abs. 2 SHV). Der Anspruch auf Unterstützung entfällt, wenn die eigenen Mittel zur Deckung der materiellen Grundsicherung ausreichen, wobei eigenes Vermögen voll angerechnet wird (§ 2b Abs. 3 SHV).

3.3 Zur Prüfung der Anspruchsberechtigung ist die finanzielle Situation der um Sozialhilfe ersuchenden Person abzuklären. Nach der Untersuchungsmaxime ist der rechtserhebliche Sachverhalt grundsätzlich von Amtes wegen festzustellen (§ 12 VRG). Die gesuchstellende Person hat an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken (vgl. § 12 Abs. 3 VRG und Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 12 N. 5 ff.). Für das Sozialhilferecht wird die Mitwirkungspflicht in § 25 SHG konkretisiert. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung hat der Hilfsbedürftige über seine Verhältnisse wahrheitsgetreu Auskunft zu geben und die erforderliche Akteneinsicht zu gestatten. Nach § 37 SHV hat eine hilfsbedürftige Person, die Unterstützung bezieht, der Fürsorgebehörde Veränderungen ihrer finanziellen Verhältnisse unverzüglich zu melden. Die Auskunftspflicht bezieht sich sowohl auf die Eigenmittel als auch auf Leistungen Dritter, die aufgrund einer Rechtspflicht oder freiwillig geleistet werden.

3.4 Die §§ 8b und 25 Abs. 3 SHG sowie die §§ 2h und 6a SHV sehen für verschiedene Sachverhalte die Kürzung oder die Einstellung von Sozialhilfeleistungen vor. Für die Kürzung, Einstellung oder Verweigerung von Sozialhilfeleistungen lassen sich folgende Fallgruppen unterscheiden (Mösch Payot, in: Häfeli [Hrsg.], Das Schweizerische Sozialhilferecht, Luzern 2008, S. 293 und 296 f.):

  • Kürzung oder Einstellung als Sanktionierung bei pflichtwidrigem Verhalten; dazu nachstehend E. 3.4.1.

  • Kürzung, Einstellung oder Verweigerung bei Rechtsmissbrauch; dazu nachstehend E. 3.4.2.

  • Kürzung, Einstellung oder Verweigerung bei (vollständiger oder teilweiser) Beweislosigkeit bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen; dazu nachstehend E. 3.4.3.

3.4.1 Kürzung oder Einstellung als Sanktionierung bei pflichtwidrigem Verhalten

Die Kürzung oder Einstellung der Sozialhilfe spielt insbesondere eine Rolle bei der Verletzung von direkt aus den Sozialhilfegesetzen fliessenden Informations- und Mitwirkungspflichten sowie bei der Nichtbefolgung spezifischer Auflagen und Weisungen (Mösch Payot, a.a.O., S. 300). Nach § 25 Abs. 3 SHG wird Hilfsbedürftigen, die Anordnungen der Behörden nicht befolgen oder deren Hilfe missbrauchen, die Unterstützung nach Verwarnung gekürzt oder eingestellt (für die Kürzung/Einstellung der Leistungen bei Verletzung der Pflicht zur Arbeitsaufnahme bzw. bei schuldhaft verursachter Einstellung in der Anspruchsberechtigung für Taggelder der Arbeitslosenversicherung vgl. § 8b SHG und § 6a SHV).
Gemäss § 2h Abs. 1 SHV in der bis 31. März 2016 gültigen Fassung (nachfolgend „aSHV“) konnte der Grundbedarf für den Lebensunterhalt - wenn qualifizierte Kürzungsgründe vorlagen - um maximal 20% für die Dauer von bis zu einem Jahr gekürzt werden. Nach § 2h Abs. 2 aSHV galten als qualifizierte Kürzungsgründe namentlich ein unrechtmässiger Leistungsbezug, Arbeitsverweigerung sowie wiederholte grobe Pflichtverletzung.
Laut der per 1. April 2016 in Kraft gesetzten neuen Fassung von § 2h SHV kann der Grundbedarf für den Lebensunterhalt um maximal 40% für begrenzte Zeit bzw. bis zur Erfüllung der Auflagen oder Bedingungen gekürzt werden, wenn qualifizierte Kürzungsgründe vorliegen. Der Abzug kann durch Kürzung oder Streichung von situationsbedingten Leistungen, Integrationszulagen sowie des Grundbetrags einzeln oder kumulativ erfolgen. Der Anspruch auf Nothilfe bleibt in jedem Fall gewahrt. Als qualifizierte Kürzungsgründe gelten gemäss § 2h Abs. 2 SHV namentlich ein unrechtmässiger Leistungsbezug, Arbeitsverweigerung sowie grobe Pflichtverletzung. § 2h Abs. 3 SHV bestimmt, dass bei wiederholter Verletzung der Mitwirkungspflicht, des Subsidiaritätsprinzips (z. B. Arbeitsverweigerung) oder bei einer absichtlich herbeigeführten Notlage, um wirtschaftliche Sozialhilfe zu beanspruchen, nach schriftlicher Verwarnung die Unterstützung eingestellt und nur noch Nothilfe ausgerichtet werden kann.
Bei der gestützt auf diese Bestimmungen verfügten sanktionsweisen Kürzung oder Einstellung der Sozialhilfeleistungen zufolge Fehlverhaltens/Pflichtverletzung der gesuchstellenden Person ist stets auch das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten. Gemäss diesem Prinzip muss das Ausmass der Kürzung aufgrund der gesamten persönlichen und sachlichen Umstände geeignet und erforderlich sein, um die nicht befolgte Anordnung durchzusetzen oder allenfalls zu ersetzen. Die Sanktion muss in einem vernünftigen Verhältnis zum Fehlverhalten der betroffenen Person stehen (vgl. Mösch Payot, a.a.O., S. 297 f. mit weiteren Hinweisen). Vor der Kürzung oder Einstellung der Unterstützung ist die sozialhilfebedürftige Person in der Regel schriftlich zu verwarnen. Sinn und Zweck einer derartigen Verwarnung ist es, der fehlbaren Person die Möglichkeit einzuräumen sich entsprechend den Auflagen und Weisungen der Fürsorgebehörde zu verhalten (TVR 2014 Nr. 26, E. 2.1, mit Verweis auf TVR 2008 Nr. 30, E. 4b). Soweit es um die Einstellung zufolge nicht eingehaltener Auflagen bzw. Verstosses gegen die Mitwirkungspflicht geht, ist eine derartige Einstellung der Unterstützungsleistungen gemäss ständiger Praxis des Verwaltungsgerichts ohne vorangehende schriftliche Verwarnung nicht zulässig (TVR 2014 Nr. 26, E. 2.2).
Einzelne der in § 2h SHV bzw. § 2h aSHV erwähnten Sachverhalte (z. B. der „unrechtmässige Leistungsbezug“, die „Arbeitsverweigerung“, die „Verletzung des Subsidiaritätsprinzips“ oder die „absichtlich herbeigeführte Notlage“) können auch dazu führen, dass der Tatbestand des Rechtsmissbrauchs (vgl. nachstehend E. 3.4.2.) oder der Tatbestand des Fehlens oder des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen für Sozialhilfe erfüllt wird (vgl. E. 3.4.3.). Diese Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als bei diesen beiden Tatbeständen - wenn sie denn erfüllt sind - in der Regel auf eine vorgängige Verwarnung verzichtet werden kann und die Beschränkungen von § 2h betreffend Kürzungsdauer und Kürzungsumfang nicht einschlägig sind (wohl aber der grundsätzlich zu beachtende Verhältnismässigkeitsgrundsatz).

3.4.2 Kürzung, Einstellung oder Verweigerung bei Rechtsmissbrauch

Das Rechtsmissbrauchsverbot untersagt als Teilgehalt des Grundsatzes von Treu und Glauben die zweckwidrige Berufung auf ein Rechtsinstitut zur Verwirklichung von Interessen, die dieses nicht schützen will (vgl. BGE 110 Ib 332 E. 3a). Es beansprucht auch im öffentlichen Recht allgemeine Geltung (BGE 121 II 5 E. 3a). Rechtsmissbrauch setzt gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung notwendigerweise voraus, dass die bedürftige Person absichtlich die eigene Lage allein zum Zweck verursacht hat, um sich in der Folge auf das Recht auf Hilfe in Notlagen und darüber hinaus gehende Sozialhilfe berufen zu können. Dieser Wille muss klar und unbestreitbar festgestellt werden. Der Missbrauch muss daher offensichtlich sein. Blosse Verdachtsmomente und Indizien genügen nicht. Ein - wenn auch stossendes - renitentes Verhalten gegenüber der Behörde begründet für sich allein noch keinen Rechtsmissbrauch (Urteil des Bundesgerichts 8C_270/2016 vom 17. August 2016 E. 8.3, mit weiteren Hinweisen, unter anderem auf Urteil 8C_927/2008 vom 11. Februar 2009 E. 6.2). Die Prüfung eines angeblichen Rechtsmissbrauchs entfällt, wo sozialhilferechtlich z.B. infolge von tatsächlich vorhandenen Eigenmitteln oder bei schuldhaftem Verzicht auf Eigenmittel gar keine Bedürftigkeit vorliegt (Wizent, a.a.O., S. 227) und somit die Einstellung bzw. Verweigerung von Leistungen Folge des Wegfalls oder Fehlens der Anspruchsvoraussetzungen ist (dazu nachstehend Erwägung 3.4.3).

3.4.3 Kürzung, Einstellung oder Verweigerung bei (vollständiger oder teilweiser) Beweislosigkeit bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen

Die Einstellung bzw. Verweigerung oder die Kürzung von Sozialhilfeleistungen kann auch wegen - vollumfänglichen oder teilweisen - Fehlens bzw. Wegfalls der Anspruchsvoraussetzungen erfolgen, so insbesondere wenn nicht (mehr) von der Bedürftigkeit der gesuchstellenden Person (allenfalls wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips) auszugehen ist. Die Nichtbeachtung von sozialhilferechtlichen Pflichten kann dazu führen, dass die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug nicht gegeben sind oder wegfallen. Können etwa wegen mangelhafter Mitwirkung der betroffenen Person erhebliche Zweifel an der Bedürftigkeit nicht beseitigt werden, kann zufolge der allgemeinen Beweislastregel, wonach zu Ungunsten derjenigen Person zu entscheiden ist, die aus der unbewiesen gebliebenen Tatsache hätte Rechte ableiten können, eine (teilweise oder volle) Leistungseinstellung oder Leistungsverweigerung gerechtfertigt sein. Die Leistungseinstellung bzw. Leistungsverweigerung infolge Beweislosigkeit richtet sich nach dem Umfang des unbewiesen gebliebenen Sachverhalts und kann demzufolge auch bloss anteilmässig erfolgen. Bei zufolge Beweislosigkeit erfolgter Verweigerung, Einstellung oder Kürzung von Sozialhilfeleistungen ist die sozialhilferechtliche Anspruchsberechtigung - ebenso wie der grundrechtliche Anspruch auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) - gar nicht berührt, da die wirtschaftliche Notlage nicht erstellt ist und somit beweismässig keine Bedürftigkeit vorliegt (vgl. Entscheide des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern VGE 100.2010.70 vom 16. Februar 2011, E. 3.1, in: BVR 2011 S. 448 ff., 451, und VGE 100.2009.24 vom 7. Mai 2009, E. 2.3.2 und E. 4.2.2., in BVR 2009 S. 415 ff., 418, sowie Mösch Payot, a.a.O., S. 307 ff., und Wizent, a.a.O., S. 526). Die Sozialhilfebehörde darf im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes jedoch nicht vorschnell von einem Wegfall oder einem Nichtbestehen der Bedürftigkeit ausgehen, sondern muss die zumutbaren Abklärungen treffen. Gemäss den SKOS-Richtlinien soll die Verweigerung oder Einstellung von Unterstützungsleistungen bereits bei erheblichen Zweifeln an der Bedürftigkeit möglich sein. Diese Richtlinienbestimmung enthebt die zuständige Behörde jedoch nicht davon, das Verfahren nach den Vorgaben der Verwaltungsverfahrensgesetzgebung zu führen. Wo möglich und zumutbar, sind also - auch bei Verletzung der Informations-, Editions- und Auskunftspflicht - Abklärungen der Bedürftigkeit von Amtes wegen vorzunehmen. Wo nach seriösen Abklärungen allerdings die Bedürftigkeit unbewiesen bleibt, trifft dies nach den allgemeinen Beweislastregeln den Leistungsansprecher. Das heisst, dass in diesem Fall die Leistungen verweigert oder eingestellt werden können (Mösch Payot, a.a.O., S. 308 f.). Soweit Abklärungen seitens der zuständigen Behörde noch möglich und zumutbar sind, genügen alleine berechtigte Zweifel am Bestehen einer Notlage nicht für eine sofortige Einstellung der wirtschaftlichen Hilfe (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich VB.2008.00174 vom 1. September 2008 E. 4.1).

4.
4.1 (…)

4.2 (…) Erfolgt eine Kürzung bzw. Einstellung der Leistungen gestützt auf § 25 Abs. 3 SHG bzw. § 2h aSHV bedingt dies grundsätzlich eine vorgängige Verwarnung (E. 3.4.1 vorstehend). Eine derartige Sanktion kann dementsprechend nur mit Wirkung für die Zukunft verfügt werden. (…)

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2016.11/E vom 15. Dezember 2016

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