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TVR 2017 Nr. 31

Qualifikation eines Kollektivhaushalts mit fünf minderjährigen Pflegekindern als Heim; Bewilligungspflicht, Zuständigkeit, Verhältnismässigkeit, Ausnahmebewilligung


§ 1 Abs. 2 HeimAV, § 5 Abs. 1 HeimAV


1. Ein Kollektivhaushalt, in dem fünf minderjährige Geschwister als Pflegekinder betreut werden, gilt gemäss § 1 Abs. 2 HeimAV als Heim, bedarf einer Bewilligung und untersteht der Heimaufsicht (E. 2 und 3.1).

2. Die Zuständigkeit für die Erteilung einer kantonalen Bewilligung für den Betrieb eines Heimes liegt beim für die Aufsicht zuständigen Departement (§ 5 Abs. 1 HeimAV; E. 2).

3. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Heimbewilligung im Sinne der HeimAV sind vorliegend nicht gegeben. Unter Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips und der besonderen Umstände ist der Beschwerdeführerin die Betreuung der fünf Geschwister im Sinne einer Ausnahmebewilligung zu erlauben unter der Auflage, dass für die Betreuung der Kinder eine ausgebildete Fachperson im Umfang von 100 Stellenprozenten anzustellen bzw. weiter zu beschäftigen ist (E. 3).


Mit Beschluss vom 10. Februar 2010 entzog die Vormundschaftsbehörde U dem Ehepaar E und F gestützt auf Art. 310 ZGB die Obhut über ihre fünf minderjährigen Kinder H, I, K, L und M. Die fünf Geschwister wurden bei N, damals mit Wohnsitz in S (Kanton S), platziert. Am 7. April 2010 bewilligte die Vormundschaftsbehörde S die Notfallplatzierung. Mit Beschluss vom 17. November 2010 erteilte sie N die Bewilligung für die Betreuung der fünf Geschwister. Am 19. Juni 2015 teilte A von der Familienplatzierungsorganisation B (nachfolgend FPO B) der Pflegekinder- und Heimaufsicht des Kantons Thurgau (nachfolgend PHA) mit, N betreue in ihrem Haushalt seit Februar 2010 die fünf Geschwister im Rahmen eines Pflegeverhältnisses. Per 1. August 2015 werde sie von S (Kanton S) in den Nachbarort T (TG) umziehen. Die PHA wies am 22. Juni 2015 darauf hin, dass für die Aufnahme bzw. Betreuung von mehr als vier minderjährigen Pflegekindern im Kanton Thurgau eine Heimbewilligung benötigt werde. Im Rahmen eines Schriftenwechsels erklärte N, sie benötige keine neue Bewilligung für ihre Tätigkeit als Pflegemutter. Am 7. Juli 2016 entschied das DJS, N habe die Betreuung der fünf Pflegekinder innert sechs Monaten einzustellen. Die für die Kinder zuständige KESB T werde ersucht, für eine angemessene Anschlussplatzierung der Kinder besorgt zu sein. Zur Sicherstellung der Betreuung bis zur Umplatzierung der Kinder habe N umgehend, spätestens jedoch ab 1. September 2016, eine ausgebildete Fachperson (Soziale Arbeit HF oder FH) im Umfang von 100 Stellenprozenten anzustellen. Eine Kopie des Ausbildungsnachweises und des Arbeitsvertrages seien der PHA bis spätestens 16. September 2016 einzureichen. Im Unterlassungsfalle seien die Kinder unverzüglich umzuplatzieren. Gegen diesen Entscheid gelangte N mit Beschwerde ans Verwaltungsgericht. Dieses heisst die Beschwerde unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids teilweise gut und weist die Sache an das DJS zurück zur Erteilung einer Bewilligung für die Betreuung der fünf Kinder als Pflegekinder unter der Auflage, dass für die Dauer der Betreuung eine ausgebildete Fachperson (Soziale Arbeit HF oder FH) im Umfang von 100 Stellenprozenten anzustellen respektive weiter zu beschäftigen sei.

Aus den Erwägungen:

2. Die Beschwerdeführerin betreut die fünf Geschwister H, I, K, L und M als Pflegemutter. Die Kinder mit Jahrgang 2001 (H), 2003 (I), 2005 (K) bzw. 2007 (L und M) sind alle fünf noch minderjährig. Gemäss Art. 1 Abs. 1 PAVO bedarf die Aufnahme von Minderjährigen ausserhalb des Elternhauses einer Bewilligung und untersteht der Aufsicht. Für die Bewilligung oder die Entgegennahme von Meldungen und die Aufsicht im Bereich der Familien-, Heim- und Tagespflege ist die Kindesschutzbehörde am Ort der Unterbringung des Kindes zuständig (Art. 2 Abs. 1 lit. a PAVO). Hieraus ergibt sich, dass für die Bewilligung der Betreuung der Geschwister durch die Beschwerdeführerin die thurgauischen Behörden örtlich zuständig sind. Was die sachliche Zuständigkeit anbelangt können die Kantone die Aufgaben im Bereich der ausserfamiliären Kinderbetreuung statt der Kindesschutzbehörde anderen geeigneten kantonalen oder kommunalen Behörden übertragen (Art. 2 Abs. 2 lit. a PAVO). Im Kanton Thurgau besteht eine Pflegekinder- und Heimaufsicht, die dem Generalsekretariat des DJS angegliedert ist. Gemäss § 11b Ziff. 3 EG ZGB leistet die Pflegekinderfachstelle die fachliche Begutachtung und die Beratung in allen Fragen der ausserfamiliären Kinderbetreuung. Die HeimAV regelt die Aufsicht über die Heime im Kanton Thurgau. § 1 Abs. 2 HeimAV bestimmt, dass ein von einer oder mehreren Personen geleiteter Kollektivhaushalt, der bezweckt, mehr als vier Personen für die Dauer von mindestens fünf Tagen in der Woche in der Regel gegen Entgelt Unterkunft, Verpflegung, Betreuung oder weitere Dienstleistungen zu gewähren, als Heim gilt. Gesuche um eine kantonale Bewilligung für den Betrieb eines Heimes sind beim für die Aufsicht zuständigen Departement einzureichen (§ 5 Abs. 1 HeimAV). § 5 Abs. 2 der Verordnung listet die dem Gesuch um Erteilung einer kantonalen Bewilligung für den Betrieb eines Heims beizulegenden Unterlagen auf. Unter anderem sind ein Ausweis über die berufliche Qualifikation der Heimleitung (§ 5 Abs. 2 Ziff. 1 HeimAV), ein Nachweis über Personal in genügender Anzahl und einer mit Bezug auf Funktion und Art des Heims angemessener Ausbildung (§ 5 Abs. 2 Ziff. 3 HeimAV) und ein Betreuungs- und Betriebskonzept (§ 5 Abs. 2 Ziff. 5 HeimAV) einzureichen.

3.
3.1 Da die Beschwerdeführerin die fünf minderjährigen Geschwister dauerhaft in ihrem Haushalt betreut, bedarf sie grundsätzlich einer Heimbewilligung (vgl. E. 2 vorstehend). Die Beschwerdeführerin hat allerdings kein Gesuch für eine Heimbewilligung im Sinne der HeimAV eingereicht. Sie macht auch nicht geltend, dass sie die Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Bewilligung, wie etwa das Vorhandensein eines Betriebskonzeptes, erfüllen würde. Eine Heimbewilligung kann der Beschwerdeführerin daher nicht erteilt werden. Damit stellt sich die Frage, ob die Fortführung der Betreuung der fünf Geschwister durch die Beschwerdeführerin ohne Erteilung einer Heimbewilligung im Sinne einer Ausnahmebewilligung zuzulassen ist.

3.2 Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse und verhältnismässig sein (Art. 5 Abs. 2 BV). Hieraus folgt, dass eine Massnahme für das Erreichen des im öffentlichen oder privaten Interesse liegenden Ziels geeignet und erforderlich sein muss. Es muss eine vernünftige Zweck-Mittel-Relation vorliegen. Eine Massnahme ist unverhältnismässig, wenn das angestrebte Ziel mit einem weniger schweren (Grundrechts-)Eingriff erreicht werden kann BGE 140 I 2 E. 9.2.2 S. 24 mit Hinweisen).

3.3 Ausgewiesen und unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin die fünf Geschwister seit mehr als sechs Jahren klaglos betreut. So wird etwa im Protokoll der Pflegekinderaufsicht des Kantons S vom 24. September 2014 die Situation aller fünf Kinder sowohl in schulischer als auch in gesundheitlicher und sozialer Hinsicht durchgehend als gut beschrieben. Dass die Pflegebeziehung zwischen der Beschwerdeführerin und den fünf Geschwistern nicht reibungslos funktionieren würde, macht auch die Beschwerdegegnerin nicht geltend. Im angefochtenen Entscheid vom 7. Juli 2016 hat die Beschwerdegegnerin die Beschwerdeführerin zur Sicherstellung einer angemessenen Betreuung der Kinder verpflichtet, eine ausgebildete Fachperson Soziale Arbeit HF oder FH anzustellen. Zumindest für die Dauer des Verfahrens erachtete also auch die Beschwerdegegnerin diese Lösung als gangbaren, dem Kindeswohl hinreichend Rechnung tragenden, Weg. Die in der Folge mit einem 100%-Pensum für die Mitbegleitung und Mitbetreuung der fünf Pflegekinder im Haushalt der Beschwerdeführerin eingesetzte Fachperson U wurde von der FPO B für diese Aufgabe angestellt. Die fachliche und persönliche Qualifikation von U ist unbestritten. Dem in § 5 Abs. 2 HeimAV vorgesehenen Erfordernis von mit Blick auf Art und Funktion einer Einrichtung zahlenmässig genügendem und hinreichend qualifiziertem Personal wird damit entsprochen. Dass die räumlichen Gegebenheiten den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden und die Beschwerdeführerin von ihrer Persönlichkeit her die Voraussetzungen für eine bestmögliche Betreuung der fünf Geschwister mitbringt, ist - wie erwähnt - nicht strittig. Art. 1a Abs. 1 PAVO statuiert ausdrücklich den Vorrang des Kindeswohls. Anhaltspunkte dafür, dass der gesetzlichen Vorgabe (Wahrung des Kindeswohles) bei einer Fortführung der Betreuung der Geschwister durch die Beschwerdeführerin unter Aufrechterhaltung ihrer Unterstützung durch eine ausgebildete Fachperson Soziale Arbeit HF oder FH mit einem 100%-Pensum nicht umfassend entsprochen werden könnte, sind nicht auszumachen. Das Pflegeverhältnis untersteht zudem der Kontrolle durch die Beschwerdegegnerin. Sie kann der Ausnahmesituation auch ohne dass eine Heimbewilligung erteilt bzw. verworfen wird durch eine im Vergleich zu „normalen“ Pflegefamilien intensivierten Aufsicht über die Situation mit im Vergleich zum Normalfall verstärkter Beratung und/oder Kontrolle der Pflegemutter Rechnung tragen. Dem Wohl der fünf Pflegekinder wäre es dagegen fraglos nicht zuträglich, wenn die seit mehreren Jahren funktionierende Konstellation mit der Beschwerdeführerin als Pflegemutter und zentrale Bezugsperson auseinandergerissen würde. In zeitlicher Hinsicht fällt schliesslich mit ins Gewicht, dass das älteste Kind, H, in gut 2,5 Jahren mündig sein wird, so dass spätestens dann die Voraussetzungen für eine ordentliche Bewilligung der Betreuung der alsdann noch vier minderjährigen Kinder im Haushalt der Beschwerdeführerin gegeben sein werden. Unter Berücksichtigung all dieser Gegebenheiten steht ausser Frage, dass dem Gesetzeszweck, der Wahrung des Kindeswohls, mit einer unter der erwähnten Auflage erteilten Bewilligung zur Weiterbetreuung der fünf Geschwister am besten entsprochen wird. Entsprechend erscheint es aufgrund dieser speziellen Verhältnisse im Sinne einer Ausnahme von § 5 Abs. 2 HeimAV angezeigt, die Fortführung der Betreuung von H, I, K, sowie L und M als Pflegekinder zu bewilligen unter der Auflage, dass für die Dauer des Pflegeverhältnisses zur Sicherstellung der Betreuung der Kinder eine ausgebildete Fachperson (Soziale Arbeit HF oder FH) im Umfang von 100 Stellenprozenent anzustellen respektive weiter zu beschäftigen ist. Damit dem Kindeswohl trotz Fehlen der Voraussetzungen für die Erteilung einer an sich nötigen Heimbewilligung angemessen Rechnung getragen wird und die erforderliche fachliche Unterstützung sicher gestellt ist, erscheint es allerdings unverzichtbar, die Erteilung einer entsprechenden Ausnahmebewilligung - wie bereits während dem laufenden Beschwerdeverfahren - vom Beizug der erwähnten Fachperson Soziale Arbeit HF oder FH im Umfang von 100 Stellenprozenten abhängig zu machen.

3.4 Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der Beschwerdeführerin keine ordentliche Bewilligung für die Betreuung der fünf Pflegekinder erteilt werden kann. Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände kann ihr aber im Sinne einer Ausnahme eine Bewilligung für die Betreuung der fünf Geschwister als Pflegekinder erteilt werden mit der Auflage, dass eine ausgebildete Fachperson weiterhin zur Sicherstellung ihrer fachlichen Unterstützung und angemessenen Betreuung der fünf Pflegekinder angestellt bleibt. Der angefochtene Entscheid ist entsprechend aufzuheben und an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie eine entsprechende Bewilligung erteile. Die Vorinstanz hat sich in ihrem neuen Entscheid auch darüber auszusprechen, welche zusätzlichen Voraussetzungen (etwa bezüglich Hinnahme von Visiten oder Berichterstattungspflicht etc.) von der Beschwerdeführerin zusätzlich zur bereits erwähnten Auflage betreffend Anstellung einer spezifischen Fachperson zu erfüllen sind.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2016.108/E vom 30. November 2016

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