TVR 2020 Nr. 27
Vorbezug eines Freizügigkeitsguthabens, Voraussetzungen für Anrechenbarkeit
Art. 16 FZV, § 8 SHG, § 2 b Abs. 3 SHV
Aufgrund von § 2b Abs. 3 SHV ist eigenes Vermögen bei der Beurteilung der sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit voll anzurechnen. Zu diesem Vermögen zählen grundsätzlich auch (beziehbare) Freizügigkeitsleistungen der beruflichen Vorsorge. Der Vorbezug von Altersleistungen der zweiten Säule und der Säule 3a ist zumutbar und zulässig, wenn dadurch die Alterssicherung nicht empfindlich geschmälert wird. Im vorliegenden Fall ist der Vorbezug eines Freizügigkeitsguthabens zur Deckung der Krankenkassen- bzw. Gesundheitskosten des Gesuchstellers ab seinem 60. Altersjahr, das heisst fünf Jahre vor Erreichen des ordentlichen AHV-Alters und drei Jahre vor Erreichen des 63. Altersjahres, ab welchem ihm auch der Vorbezug der AHV-Rente möglich wäre, zumutbar.
A, geboren am 3. Mai 1957, befindet sich seit dem 10. Mai 2017 im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt J. Mit Schreiben vom 24. Mai 2017 stellte die zuständige Sachbearbeiterin der Justizvollzugsanstalt J bei den Sozialen Diensten der Politischen Gemeinde B für A das Gesuch um Übernahme der Krankenkassenprämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung, inklusive Unfall, sowie um subsidiäre Kostengutsprache für die Franchise und für allfällig anfallende Selbstbehalte und medizinische Hilfsmittel. Am 1. Juni 2017 wurde A von der Politischen Gemeinde B darauf hingewiesen, dass er am 3. Mai 2017 das 60. Altersjahr vollendet habe und damit zum Vorbezug seines Pensionskassenguthabens legitimiert sei. Durch diesen Vermögenszuwachs sollte es ihm möglich sein, die von ihm im Gesuch vom 24. Mai 2017 angeführten Kosten selber zu tragen. Mit Eingabe vom 21. Juni 2017 hielt A an seinem Antrag fest. In diesem führte er unter anderem an, dass er über ein Freizügigkeitskonto mit einem Guthaben von Fr. 173'939.-- verfüge. Mit Entscheid vom 19. November 2019 lehnte die Fürsorgekommission der Politischen Gemeinde B das Gesuch von A um Bezug von materieller Hilfe ab, da A seine Notlage durch die Auszahlung des Freizügigkeitsguthabens "aktiv bekämpfen könne". Einen dagegen erhobenen Rekurs wies das DFS mit Entscheid vom 9. März 2020 ab, wogegen A Beschwerde erhob. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf diese eintritt.
Aus den Erwägungen:
3.
3.1 In materieller Hinsicht ist strittig, ob die verfahrensbeteiligte Gemeinde die Übernahme der Gesundheitskosten des Beschwerdeführers in Form der Krankenkassenprämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung, der Franchise, des Selbstbehalts und der Kosten für medizinische Hilfsmittel zu Recht mit der Begründung verweigert hat, dass diese Kosten vom Beschwerdeführer durch den Vorbezug seiner Freizügigkeitsleistung selbst getragen werden können, ohne dass er zusätzlich durch die Sozialhilfe zu unterstützen wäre. (…)
3.2 (…)
3.3 Gemäss § 8 SHG sorgt die Gemeinde für die notwendige Unterstützung, wenn jemand nicht über hinreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes für sich und seine Angehörigen mit gleichem Wohnsitz verfügt, sofern vom Hilfsbedürftigen nicht verlangt werden kann, sich die Mittel durch eigene Arbeit zu beschaffen, und keine andere Hilfe möglich ist (Subsidiaritätsprinzip; vgl. hierzu Hänzi, Die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, Basel 2011, S. 113 f., sowie Wizent, Die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Ein Handbuch, Zürich/St. Gallen 2014, S. 228 ff.). Für die Bemessung der Unterstützung gemäss § 8 SHG finden in der Regel die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien) Anwendung (§ 2a Abs. 1 Satz 1 SHV). Die in der SHV nachfolgend aufgeführten Konkretisierungen und Ergänzungen sind für die Bemessung der Unterstützung massgeblich (§ 2a Abs. 1 Satz 2 SHV). Die Unterstützung setzt sich aus der materiellen Grundsicherung und bei Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen zusätzlich aus situationsbedingten Leistungen, aus Integrationszulagen und/oder aus Einkommens-Freibeträgen zusammen (§ 2 Abs. 2 SHV). Die Höhe der materiellen Grundsicherung (Grundbedarf für den Lebensunterhalt, Wohnungskosten und Kosten für medizinische Grundversorgung) bemisst sich gemäss § 2b SHV in der Regel nach den SKOS-Richtlinien. Ergänzend und insoweit abweichend davon gilt für Wohnungskosten § 2b Abs. 4 SHV und für junge Erwachsene § 2k SHV (vgl. § 2b Abs. 1 SHV). Abweichungen sind zu begründen (§ 2b Abs. 2 SHV). Der Anspruch auf Unterstützung entfällt, wenn die eigenen Mittel zur Deckung der materiellen Grundsicherung ausreichen, wobei eigenes Vermögen voll angerechnet wird (§ 2b Abs. 3 SHV).
3.4 In Ziffer E. 2.5 der SKOS-Richtlinien (4. Ausgabe, Stand Dezember 2016) wird festgehalten, dass Leistungen der 2. Säule und der Säule 3a grundsätzlich der Sozialhilfe vorgehen und im Budget der unterstützten Person vollumfänglich anzurechnen sind. Gemäss Art. 16 Abs. 1 FZV dürfen Altersleistungen von Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten frühestens fünf Jahre vor und spätestens fünf Jahre nach Erreichen des Rentenalters nach Art. 13 Abs. 1 BVG ausbezahlt werden. In Ziffer E. 2.5 der SKOS-Richtlinien wird weiter festgehalten, dass Freizügigkeitsguthaben der 2. Säule und der Säule 3a grundsätzlich zusammen mit dem AHV-Vorbezug oder dem Bezug einer ganzen IV-Rente herauszulösen seien. Der Lebensunterhalt sei ergänzend zur AHV- bzw. IV-Rente mit dem ausgelösten Guthaben zu bestreiten. Um der Zielsetzung der 2. Säule (Sicherung der gewohnten Lebenshaltung in Ergänzung zu den Leistungen der AHV/IV) Rechnung zu tragen, soll die Anzehrung auslösbarer Freizügigkeitsguthaben nicht früher erfolgen. Decken AHV- bzw. IV-Rente und der anrechenbare Vermögensverzehr aus dem Freizügigkeitskonto den Lebensunterhalt nicht, können Ergänzungsleistungen beantragt werden. Ausgelöste Guthaben der 2. Säule und der Säule 3a sind liquides Vermögen und nach Eintritt der Fälligkeit für den zukünftigen Lebensunterhalt zu verwenden (vgl. Ziff. E.2.5 der SKOS-Richtlinien).
3.5 Der Beschwerdeführer (geboren am 3. Mai 1957) war weder im Zeitpunkt der Gesuchstellung vom 24. Mai 2017 noch im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung vom 29./31. März 2020 63 Jahre alt und somit auch nicht zum AHV-Vorbezug berechtigt (vgl. Art. 40 Abs. 1 AHVG). Er ist auch weder IV-Rentner noch bezieht er Ergänzungsleistungen. Am 3. Mai 2017 wurde er jedoch 60 Jahre alt und war somit ab jenem Zeitpunkt grundsätzlich berechtigt, sich sein Freizügigkeitsguthaben in Höhe von Fr. 173'939.-- bei der Pensionskasse der Firma C im Rahmen eines Vorbezugs auszahlen zu lassen (vgl. Art. 16 Abs. 1 FZV, wonach Altersleistungen von Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten frühestens fünf Jahre vor und spätestens fünf Jahre nach Erreichen des Rentenalters nach Art. 13 Abs. 1 BVG ausbezahlt werden können). Strittig ist vorliegend, inwiefern die dem Beschwerdeführer zustehende und im Sinne eines Vorbezugs erhältliche Freizügigkeitsleistung in Höhe von Fr. 173'939.-- bei der Beurteilung seiner Bedürftigkeit - als Voraussetzung für die von ihm anbegehrte fürsorgerechtliche Unterstützung - zu berücksichtigen ist. Wie erwähnt, finden gemäss § 2a Abs. 1 SHV für die Bemessung der Unterstützung zwar in der Regel die SKOS-Richtlinien Anwendung, jedoch sind die in der SHV enthaltenen Konkretisierungen und Ergänzungen massgebend. In diesem Sinne bestimmt etwa § 2b Abs. 3 SHV, dass eigenes Vermögen voll anzurechnen ist. Zu diesem Vermögen zählen grundsätzlich auch (beziehbare) Freizügigkeitsleistungen. Nach Auffassung des Bundesgerichts ist eine Vorbezugspflicht in Bezug auf das Vorsorgeguthaben der 2. und 3. Säule in Ausnahmefällen - das heisst "sofern dadurch die Altersvorsorge des Berechtigten keine empfindliche Schmälerung der Alterssicherung zur Folge hat" - nicht unhaltbar, wobei das Bundesgericht auf eine analoge Anwendung der Bestimmungen über den Vermögensverzehr bei der Ergänzungsleistung zur AHV/IV (EL) für die Frage der Anrechenbarkeit von Leistungen aus beruflicher Vorsorge verweist (Urteil des Bundesgerichts 2P.53/2004 vom 13. Mai 2004 E. 4.3). Weiter weist das Bundesgericht darauf hin, es sei nicht ersichtlich, weshalb ein zum Vorbezug von Freizügigkeitsleistungen Berechtigter, der von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch mache, nicht gleich behandelt werden solle, wie jemand, der die Leistungen tatsächlich beziehe. Es dem Gutdünken des Berechtigten zu überlassen, über die Anrechenbarkeit dieses Vermögens zu entscheiden, würde gemäss Bundesgericht zu einer stossenden Ungleichbehandlung gegenüber effektiven Bezügern von Freizügigkeitsleistungen führen (Urteil des Bundesgerichts 2P.53/2004 vom 13. Mai 2004 E. 4.3 mit weiteren Hinweisen; vgl. auch Landolt, Inwieweit darf die Sozialhilfebehörde am sozialversicherungsrechtlichen Honigtopf naschen?, in: AJP 2012 S. 639 ff., S. 645 f., mit Hinweis auf Entscheide des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich VB.2000.00411 vom 12. April 2001 E. 2d und VB.2003.00286 vom 15. Dezember 2003 E. 2.4 bzw. E. 4.5.3). Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat in seinem Entscheid VG.22521 vom 3. April 2006 (= BVR 2006 S. 408 ff.) unter Bezugnahme insbesondere auf das bereits erwähnte Urteil des Bundesgerichts 2P.53/2004 vom 13. Mai 2004 in E. 5 den Teilvorbezug eines Freizügigkeitsguthabens durch einen Berechtigten, der (wie im vorliegenden Fall) weder IV-Rentner war noch EL bezog, unter sinngemässer Anwendung der Bestimmungen über den Vermögensverzehr bei EL als gerechtfertigt erachtet. Damit werde, so das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, vorab dem Umstand Rechnung getragen, dass die Sozialhilfe subsidiärer Natur sei und ihre finanziellen Zuschüsse ausschliesslich zur Überbrückung von Notlagen dienten und nicht über längere Zeit fliessendes Ergänzungs- oder Mindesteinkommen darstellten (BVR 2006 S. 408 ff. E. 5.3).
3.6 Dieses Vorgehen erweist sich auch in der vorliegenden Konstellation (als begründete Abweichung zu Ziffer E. 2.5 der SKOS-Richtlinien [vgl. § 2b Abs. 2 SHV]) als sachgerecht und angezeigt. Entsprechend der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern gemäss BVR 2006 S. 408 ff., E. 5.4, und E. 4.3 des Urteils des Bundesgerichts 2P.53/2004 vom 13. Mai 2004 wäre bei sinngemässer Anwendung der EL-rechtlichen Grundsätze über den Vermögensverzehr (Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG zur Ermittlung des anrechenbaren Vermögens vom Nettovermögen ein Vermögensfreibetrag von Fr. 37'500.-- abzuziehen. Ob ein derartiger Vermögensfreibetrag für die Beurteilung der sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit angesichts des Grundsatzes von § 2b Abs. 3 Satz 2 SHV, wonach Vermögen "voll" angerechnet wird, überhaupt zu berücksichtigen ist, erscheint fraglich, kann vorliegend aber dahingestellt bleiben, da auch bei dieser Berechnungsweise ein Unterstützungsanspruch des Beschwerdeführers verneint werden muss. Da der Beschwerdeführer zumindest im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung vom 24. Mai 2017 das AHV-Alter noch nicht erreicht hatte, beträgt der zumutbare jährliche Vermögensverzehr 1/15 des anrechenbaren Vermögens (Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG). Der Beschwerdeführer kann sodann jährlich eine Neuberechnung verlangen, welche den Vermögensverzehr berücksichtigt (vgl. Art. 25 Abs. 1 lit. c i. V. mit Abs. 2 lit. c und Abs. 3 ELV; vgl. den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern VGE.22521 vom 3. April 2006 E. 5.4, in: BVR 2006 S. 408 ff.).
3.7 Nach dem (fraglichen) Abzug eines Vermögensfreibetrags von Fr. 37'500.-- (Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG) verbleibt vom Freizügigkeitsguthaben von Fr. 173'939.-- ein Restbetrag von Fr. 136'439.--. Als Vermögensverzehr (bzw. als "Einnahmen") ist unter sinngemässer Anwendung der dargestellten EL-rechtlichen Grundsätze (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG) pro Jahr 1/15 davon anzurechnen, was einem Betrag von jährlich Fr. 9'095.95 entspricht (ohne Berücksichtigung des Vermögensfreibetrags von Fr. 37'500.-- würde jährlich sogar ein Betrag von Fr. 11'595.95 zur Verfügung stehen [Fr. 173'939.-- : 15]). Ausgabenseitig errechnete die verfahrensbeteiligte Gemeinde in ihrer Stellungnahme vom 8. Januar 2020 (act. 3) einen jährlichen Betrag von Fr. 5'431.80 für Krankenkassenkosten, beinhaltend die KVG-Prämien Januar bis Dezember 2017 von Fr. 4'231.80, die Franchise 2017 von Fr. 500.-- und einen Selbstbehalt von Fr. 700.--. Diese Berechnung wird vom Beschwerdeführer nicht in Frage gestellt und erweist sich als zutreffend. Dem Beschwerdeführer ist es mit anderen Worten zumutbar, ab seinem 60. Altersjahr einen entsprechenden Betrag von über Fr. 9'000.-- für die Bestreitung seines Lebensunterhaltes aus seinem Freizügigkeitsguthaben zu verwenden. Der von der verfahrensbeteiligten Gemeinde berechnete jährliche Betrag für Krankheitskosten von Fr. 5'431.80 liegt deutlich unter diesem in sinngemässer Anwendung der EL-Grundsätze errechneten Betrag von über Fr. 9'000.--.
3.8 Die verfahrensbeteiligte Gemeinde wies in ihrer Stellungnahme vom 8. Januar 2020 sodann weiter darauf hin, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Gesuchstellung 60 Jahre alt gewesen sei, mit Erreichen des 63. Altersjahres eine AHV-Rente vorbeziehen und - bei gegebenen Voraussetzungen - Ergänzungsleistungen beziehen könne. Nach Abzug der maximalen Krankenkassenkosten für drei Jahre von ca. Fr. 16'295.40 verblieben dem Beschwerdeführer, so die verfahrensbeteiligte Gemeinde weiter, von seinem Freizügigkeitsguthaben (von Fr. 173'939.--) noch ca. Fr. 157'644.-- für die Finanzierung seines Lebensunterhaltes nach seiner Pensionierung bzw. nach dem Austritt aus der Justizvollzugsanstalt J. Auch diese Einschätzung erweist sich als zutreffend. Mit dem errechneten Restbetrag von über Fr. 150'000.-- wäre es dem Beschwerdeführer ohne weiteres zumutbar, auch nach Erreichen des 63. Altersjahres, ab welchem ihm der AHV-Vorbezug möglich wäre, seine Altersvorsorge zu bestreiten. (…) Diese Anzehrung seines Vermögens hat keine wesentliche bzw. "empfindliche" Schmälerung seiner Alterssicherung im Sinne der zitierten bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Urteil 2P.53/2004 vom 13. Mai 2004 E. 4.3) zur Folge.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2020.39/E vom 9. September 2020
Das Bundesgericht ist auf eine dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 8C_722/2020 vom 4. Dezember 2020 nicht eingetreten.