TVR 2024 Nr. 31
Sachliche Zuständigkeit der Flurkommission bei privatrechtlichen Vereinbarungen.
Das Verwaltungsgericht prüft nicht nur seine eigene Zuständigkeit von Amtes wegen, sondern gleichermassen, ob die Prozessvoraussetzungen bei der Vorinstanz bzw. der verfahrensbeteiligten Gemeinde gegeben waren (E. 2).
Werden die Mindestvorschriften des FlGG bzw. durch Verweis in § 96 PBG der politischen Gemeinde durch eine privatrechtliche Vereinbarung über die Höhe von Pflanzungen nicht verletzt, ist für Streitigkeiten aus nämlicher Vereinbarung der Zivilrichter und nicht die Flurkommission zuständig (E. 3.1 - 3.3).
Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an einer Sachurteilsvoraussetzung fehlte und hat sie materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufzuheben ist mit der Feststellung, auf das Rechtsmittel könne mangels Sachurteilsvoraussetzung nicht eingetreten werden (3.4).
Zwischen den Beschwerdeführern und den Verfahrensbeteiligten kam im Rahmen einer flurrechtlichen Streitigkeit eine Vereinbarung zustande. In Ziff. 1 dieser Vereinbarung verpflichteten sich die Verfahrensbeteiligten, "folgende Pflanzungen auf ihrem Grundstück so zu schneiden und immer unter Schnitt zu halten, dass die Höhe von 2.30 m nie überschritten wird: von der Ulmenstrasse her gesehen in Richtung Süden, die Stechpalme, den Flieder, den zweiten Mirabellenbaum sowie den Weissdorn. Der erste Mirabellenbaum darf weiter wachsen". Im August 2019 wandten sich die Beschwerdeführer erneut an die Flurkommission. Deren Präsident forderte die Verfahrensbeteiligten auf, den "zweiten Mirabellenbaum (vom Gehweg in Richtung Süden)" bis spätestens 12. Oktober 2019 auf die geforderte Höhe von 2.30 m zurückzuschneiden. Die Verfahrensbeteiligten erwiderten, der "zweite Mirabellenbaum" stehe schon lange nicht mehr. Sie hätten jedoch einen neuen Mirabellenbaum gepflanzt, der sich weiter, das heisse 3.50 m, von der Grenze zur Liegenschaft der Beschwerdeführer entfernt befinde. Daraufhin lehnte die Flurkommission das Begehren der Beschwerdeführer auf Rückschnitt des "zweiten Mirabellenbaums" ab. Dagegen erhoben die Beschwerdeführer Rekurs bei der Vorinstanz, die abwies. Das mit Beschwerde angerufene Verwaltungsgericht hebt den Entscheid der Vorinstanz und denjenigen der Flurkommission auf.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 § 5 Abs. 1 VRG bestimmt, dass sich die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden nach der Gesetzgebung richtet und abweichende Vereinbarungen zwischen Behörde und Beteiligten mit Ausnahme von Schiedsgerichtsklauseln nichtig sind. Die sachliche Zuständigkeit bestimmt sich nach dem zu behandelnden Gegenstand (Verfügungsgegenstand im nichtstreitigen Verwaltungsverfahren bzw. Streitgegenstand im Rechtsmittelverfahren). Sie legt fest, ob eine Angelegenheit nach ihrer Rechtsnatur in den Aufgabenbereich einer bestimmten Behörde fällt oder nicht. Dabei ist vorab die Sachzuständigkeit der Verwaltungsbehörden von denjenigen der Zivil- und Straf-rechtspflegeinstanzen abzugrenzen (Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, 2014, § 5 N. 3).
2.2 Das Verwaltungsgericht prüft nicht nur seine eigene Zuständigkeit von Amtes wegen, sondern gleichermassen, ob die Prozessvoraussetzungen bei der Vorinstanz bzw. der verfahrensbeteiligten Gemeinde gegeben waren. Stellt das Verwaltungsgericht fest, dass die Vorinstanz bzw. die verfahrensbeteiligte Gemeinde sachlich, örtlich oder funktionell nicht zuständig waren, hat es deren Entscheide aus diesem Grund aufzuheben. Dabei ist es bei seiner Beurteilung nicht an entsprechende Anträge oder rechtliche Begründungen der Beteiligten gebunden. Namentlich spielt keine Rolle, ob die Zuständigkeit anerkannt oder bestritten wird (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-6669/2013 vom 21. März 2016 E. 3.1; Daum/Bieri, in: Auer/ Müller/Schindler [Hrsg.], Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG, SR 172.021], 2. Aufl. 2018, Art. 7 N. 15, Kölz/Häner/Bertschi, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. 2013, S. 245, mit Hinweis auf BGE 134 V 269 E. 2, 132 V 93 E. 1.2 und 128 V 89 E. 2a, Plüss, in: Griffel [Hrsg.], Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 3. Aufl. 2014, Art. 5 N. 11, Rhinow/Koller/Kiss/Thurnherr/Brühl-Moser, Öffentliches Prozessrecht, 4. Aufl. 2021, N. 1038, mit Hinweis auf BGE 127 V 1 E. 1a und BGE 148 III 172, nicht publizierte E. 7).
3.
3.1 Vorliegend stützen die Beschwerdeführer ihr Begehren um Rückschnitt des "zweiten Mirabellenbaums" auf die am 6. Dezember 2004 zwischen ihnen und den Verfahrensbeteiligten geschlossene Vereinbarung. Gemäss Ziff. 1 dieser Vereinbarung verpflichteten sich die Verfahrensbeteiligten, unter anderem den von der Ulmenstrasse her Richtung Süden gesehenen "zweiten Mirabellenbaum" so zu schneiden und immer unter Schnitt zu halten, dass eine Höhe von 2.30 m nicht überschritten wird.
3.2
3.2.1 Gemäss Art. 688 ZGB sind die Kantone unter anderem befugt, für Anpflanzungen je nach der Art des Grundstücks und der Pflanzen bestimmte Abstände vom nachbarlichen Grundstück vorzuschreiben. Die Bestimmung enthält damit einen echten zuteilenden Vorbehalt zugunsten der Kantone im Sinn von Art. 5 ZGB. Gestützt darauf sind diese ermächtigt, die Abstände festzulegen, welche die Eigentümer für Anpflanzungen einhalten müssen, und Sanktionen für die Verletzung entsprechender Bestimmungen vorzusehen. Halten Pflanzungen kantonalrechtliche Abstände nicht ein, kann ihre Beseitigung ohne Nachweis übermässiger Einwirkungen verlangt werden (Urteil des Bundesgerichts 5A_719/2022 vom 3. November 2022 E. 3.1 mit Hinweisen). Die Bestimmungen, welche die Kantone auf der Grundlage von Art. 688 ZGB erlassen, bezwecken den Schutz von Nachbarn gegen Beeinträchtigungen durch von Pflanzen auf dem Nachbargrundstück erzeugten Immissionen wie dem Entzug von Licht und Aussicht oder erhöhter Feuchtigkeit (Urteil des Bundesgerichts 5A_968/2019 vom 20. Mai 2020 E. 3.1.3 mit Hinweisen).
3.2.2 Der Kanton Thurgau hat mit Erlass des FlGG vom Vorbehalt nach Art. 688 ZGB Gebrauch gemacht (Urteil des Bundesgerichts 5A_719/2022 vom 3. November 2022 E. 3.2). Für den im Streit stehenden Baum gilt dabei grundsätzlich die Abstandsvorschrift nach § 5 FlGG. Danach dürfen Bäume, Sträucher, Hecken, Lebhäge und ähnliche Pflanzungen sowie mehrjährige landwirtschaftliche Kulturen nie höher gehalten werden als das Doppelte ihres Grenzabstandes (Abs. 1). Beträgt der Grenzabstand mindestens 10 m, besteht keine Beschränkung der Höhe (Abs. 2).
3.2.3 Nachdem der Kanton Thurgau von diesem Vorbehalt zugunsten der Kantone Gebrauch gemacht hat, räumte er nach § 96 PBG wiederum den Gemeinden das Recht ein, in Baureglementen Bestimmungen über Pflanzungen und Einzäunungen aufzunehmen, die vom FlGG abweichen. Art. 36 Abs. 6 BauR der verfahrensbeteiligten Gemeinde legt fest, dass Bäume einen Grenzabstand von mindestens 3 m einzuhalten haben und in ihrer Höhe nicht beschränkt sind.
3.2.4 Gemäss § 32 Abs. 1 FlGG entscheidet die Flurkommission in nachbarrechtlichen Streitigkeiten, sofern nachbarrechtliche Bestimmungen des FlGG anwendbar sind. Begehren, die sich auf nachbarrechtliche Bestimmungen des ZGB stützen, sind jedoch beim zivilen Gericht anhängig zu machen.
3.3 Zwischen den Beteiligten ist unbestritten, dass der fragliche "zweite Mirabellenbaum" einen Grenzabstand auf dem Grundstück der Verfahrensbeteiligten von mindestens 3 m bzw. 3.5 m aufweist. Die Verletzung flurrechtlicher Vorschriften steht somit ausser Frage. Aus der Abgrenzung zur Zivilgerichtsbarkeit (E. 3.2.4 hiervor) ergibt sich indes, dass die Flurkommission ausschliesslich für die Entscheidung über die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes gemäss §§ 8 Abs. 1 i.V. mit 5 FlGG zuständig ist. Im Rahmen des Flurrechts sind Grenzabstände sodann rechtmässig, wenn sie den Mindestvorschriften nach § 5 FlGG bzw. den gestützt auf den Verweis nach § 96 PBG erlassenen kommunalen flurrechtlichen Normen nicht zuwiderlaufen. Daraus folgt, dass die Kommission ausschliesslich für die Einhaltung der Bestimmungen des FlGG bzw. gestützt auf § 96 PBG erlassenen kommunale Normen bezüglich Pflanzungen, einschliesslich deren maximaler Höhe im Verhältnis zu ihrem Grenzabstand, verantwortlich ist. Halten Pflanzungen die Mindestabstände des FlGG bzw. des kommunalen Rechts im Verhältnis zu ihrer Höhe ein, beschlägt die Streitsache von vornherein nicht die Zuständigkeit der Flurkommission, zumal der rechtmässige Zustand nicht verletzt wird und somit grundsätzlich keine Beseitigung verlangt werden kann (E. 3.2.1 hiervor). Hierbei kann es keine Rolle spielen, ob den im Streit liegenden Pflanzungen eine abweichende Vereinbarung zwischen Privaten zugrunde liegt. Vielmehr muss auch § 9 i.V. mit § 32 FlGG in diesem Sinne gelesen werden. Werden die kantonalen bzw. kommunalen Abstandsvorschriften mittels Vereinbarung zwischen privaten Parteien unterschritten, kann lediglich die Wiederherstellung der Höhe der Pflanzungen laut Vereinbarung und nicht gemäss dem gesetzmässig grösseren Abstand laut § 5 FlGG verlangt werden. In den übrigen Fällen haben die Parteien an den Zivilrichter zu gelangen.
3.4 Damit fehlt es vorliegend an der Sachurteilsvoraussetzung der Zuständigkeit der für den Vollzug des FlGG verantwortlichen Behörde. Diese hat die Einhaltung von privatrechtlichen Vereinbarungen nicht durchzusetzen, wenn jene eine Einschränkung der Höhe oder der Grenzabstände von Pflanzungen vorsehen, die den Mindestvorschriften des FlGG respektive vorliegend des kommunalen Baureglementes nicht zuwiderlaufen. Die Flurkommission der Beschwerdegegnerin hätte demnach ebenso wenig auf die Streitsache eintreten dürfen wie die Vorinstanz. Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an einer Sachurteilsvoraussetzung fehlte und hat sie materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufzuheben ist mit der Feststellung, auf das Rechtsmittel könne mangels Sachurteilsvoraussetzung nicht eingetreten werden (BGE 127 V 1 E. 1.a sowie BGE 148 II 172, nicht publizierte E. 7). Bei diesem Verfahrensausgang erübrigen sich Weiterungen zum beantragten Augenschein, dem botanischen Gerichtsgutachten sowie der in diesem Zusammenhang von den Beschwerdeführern vorgeworfenen Gehörsverletzung durch die Vorinstanz.
Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2023.6/E vom 13. Dezember 2023