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RBOG 1999 Nr. 21

Provisorische Rechtsöffnung am Arrestort im europäischen Verhältnis


Art. 2 aLugÜ, Art. 3 aLugÜ, Art. 16 aLugÜ, Art. 24 aLugÜ, Art. 82 SchKG, § 20 aZPO (TG)


1. Der Rekurrent beanstandete, dass das Gerichtspräsidium das Rechtsöffnungsverfahren als Vollstreckungsverfahren im Sinn von Art. 16 Ziff. 5 des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (LugÜ, SR 0.275.11) qualifizierte. Mit überwältigender Mehrheit werde in Lehre und Rechtsprechung die Auffassung vertreten, beim Verfahren der provisorischen Rechtsöffnung handle es sich um ein Erkenntnisverfahren im Sinn von Art. 2 ff. LugÜ, welches nur an einem LugÜ-konformen ordentlichen Gerichtsstand, nicht aber am Arrestort (Art. 3 Abs. 2 LugÜ) durchgeführt werden könne.

2. a) Das LugÜ enthält ein geschlossenes System von Zuständigkeitsnormen, welches ohne Rücksicht auf schweizerische Verhältnisse allein im Hinblick auf einen ausreichenden Rechtsschutz im Binnenmarkt zwischen den europäischen Staaten festgelegt wurde (Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, 5.A., S. 22 N 2). Bedeutsam ist das Übereinkommen vor allem in zwei Bereichen: Zum einen ist, erstmals in einem Staatsvertrag, eine umfassende Regelung der direkten internationalen Zuständigkeit in (vermögensrechtlichen) Zivil- und Handelssachen (Art. 1 LugÜ) gelungen, deren Anwendbarkeit grundsätzlich nur vom Wohnsitz des Beklagten in einem Vertragsstaat abhängt (Art. 2 LugÜ); zum anderen wird die Anerkennung und Vollstreckung aller in den Vertragsstaaten erlassenen gerichtlichen Entscheidungen nach Art. 25 ff. LugÜ erheblich erleichtert und beschleunigt (vgl. Art. 34 LugÜ), unabhängig davon, ob sie aufgrund der Zuständigkeitsvorschriften des Übereinkommens oder des autonomen staatlichen Rechts ergangen sind (Kropholler, S. 27 N 16). Konsequenterweise sieht Art. 16 Ziff. 5 LugÜ deshalb vor, dass als Zwangsvollstreckungsverfahren nur solche Verfahren gelten sollen, welche die Zwangsvollstreckung "aus Entscheidungen" zum Gegenstand haben. Diese Bestimmung setzt somit eine ergangene gerichtliche Entscheidung als Grundlage des Vollstreckungsverfahrens voraus. Eine solche liegt aber bei der provisorischen Rechtsöffnung - im Gegensatz zur definitiven - naturgemäss gerade nicht vor, stützt sich der Kläger doch hier lediglich auf eine urkundliche Schuldanerkennung (Art. 82 Abs. 1 SchKG).

b) Wird das Rechtsöffnungsverfahren als Erkenntnisverfahren eingestuft, fällt es unter den Vorbehalt von Art. 3 Abs. 2 LugÜ: Der Gerichtsstand des Arrestorts ist somit ausdrücklich ausgeschlossen. Handelt es sich dabei hingegen um ein Verfahren im Rahmen der Zwangsvollstreckung, kann hierüber gemäss Art. 16 Ziff. 5 LugÜ am Arrestort entschieden werden. Als Erkenntnisverfahren wird ein Verfahren bezeichnet, in welchem ein Urteil in der Sache ergeht, d.h. die materielle Rechtslage zwischen den Parteien bzw. die Leistungspflicht des Schuldners verbindlich festgelegt wird. Demgegenüber ist das Vollstreckungsverfahren darauf ausgerichtet, die Vollstreckung einer bereits vorliegenden gerichtlichen Entscheidung zu erwirken. In diesem Verfahren wird die Substantiierung des geltend gemachten Anspruchs nur summarisch überprüft; Prozessthema ist hier die exekutionsrechtliche Frage, ob ein vollstreckbarer Titel vorliegt (Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3.A., S. 46; Walder, Zivilprozessrecht, 4.A., § 1 N 4).

c) Das Verfahren betreffend provisorische Rechtsöffnung ist ein altes, typisch schweizerisches Verfahren: Pragmatisch, einfach, billig. Es beruht auf Treu und Glauben sowie auf grossem Vertrauen in den erfahrenen, im Volk verwurzelten Richter. Dass die einfache schriftliche Schuldanerkennung einen schnellen Weg zur Vollstreckung öffnet, ist eine schweizerische Besonderheit. Im Ausland kann die direkte Vollstreckung im Allgemeinen höchstens aus einer öffentlichen Urkunde stattfinden. Das Rechtsöffnungsverfahren ermöglicht dem Gläubiger, welchem sich der Schuldner schriftlich verpflichtete, hingegen in einem schnellen, summarischen Verfahren zur Vollstreckung zu gelangen. Das summarische Verfahren ist die Regel, das ordentliche die Ausnahme. Jenes geht diesem voraus, und in jenem entscheidet sich, wer - Betreibungsgläubiger oder Betreibungsschuldner - in diesem klagen muss. Der Rechtsöffnungsrichter bestimmt die Parteirollen für den ordentlichen Prozess über die An- oder Aberkennungsklage. Indem er einer Partei den strittigen Anspruch vorläufig zuspricht, zwingt er die Gegenpartei zur Klage im folgenden Prozess, welcher jedoch erfahrungsgemäss nicht häufig stattfindet (Peter, Fragen zur provisorischen Rechtsöffnung, in: SJZ 95, 1999, S. 142).

Die provisorische Rechtsöffnung hat somit - wenn auch Teil des Vollstreckungsverfahrens - insofern Erkenntnischarakter, als sie als eine provisorische Entscheidung gestützt auf eine eingeschränkte Rechtsprüfung ergeht, die nur endgültig wird, wenn nicht die Partei, deren Rechtsposition sich bei der summarischen Prüfung als weniger wahrscheinlich ergab, innert einer bestimmten Frist den ordentlichen Prozess einleitet (Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A., § 213 Ziff. 2 N 46). Die überwiegende Lehre sieht in der Rechtsöffnung ein materielles Erkenntnisverfahren (vgl. die Zusammenstellung der Literatur in ZR 97, 1998, Nr. 14 S. 43 f.). Auch die vom Bundesamt für Justiz eingesetzte Expertengruppe für die Prüfung der Anpassungsbedürftigkeit der Revisionsvorlage SchKG an das Lugano-Übereinkommen vom 10. Juli 1993 (Hrsg.: Bundesamt für Justiz) befürwortete es, das Rechtsöffnungsverfahren als Erkenntnisverfahren im Sinn von Art. 2 ff. LugÜ zu qualifizieren (S. 30 Ziff. 4.4.2.2.). Soweit die in diesem Zusammenhang gefällten kantonalen Gerichtsentscheide bekannt sind, schloss sich die Justiz dieser Auffassung vollumfänglich an. Sowohl der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Zürich als auch der Bezirksgerichtspräsident Arlesheim, das Zivilgericht Basel, der Walliser Cour de cassation civile und der Cour de justice de Genève erachteten die Zuständigkeit zur provisorischen Rechtsöffnung am Arrestort als nicht gegeben (ZR 97, 1998, Nr. 14; BJM 1994 S. 317 ff. sowie 1998 S. 211 ff.; RVJ 1994 S. 312 ff.; SZIER 1994 S. 395 ff.). Zusätzlich zu diesen bereits im erstinstanzlichen Verfahren bekannten und diskutierten Entscheiden ist derjenige des Kantonsgerichts Graubünden, publiziert in PKG 1997 Nr. 20, zu erwähnen: Jene Behörde stellte ebenfalls fest, der Rechtsöffnungsrichter am Gerichtsstand des Arrestorts sei zur Erteilung der provisorischen Rechtsöffnung gestützt auf eine private Schuldanerkennung nicht zuständig.

Die Rekurskommission schliesst sich dieser Auffassung an. Das Verfahren betreffend provisorische Rechtsöffnung ist nun einmal kein reines Vollstreckungsverfahren. Der Betriebene kann ohne jede Einschränkung materielle Einwendungen gegen den Bestand der Forderung erheben. Der Unterschied zu einem ordentlichen Erkenntnisverfahren besteht lediglich in der Beweismittelbeschränkung bzw. darin, dass von der beklagten Partei blosse Glaubhaftmachung der Bestreitung des Anspruchs verlangt wird (Art. 82 Abs. 2 SchKG). Des Weiteren würde es Sinn und Zweck des LugÜ widersprechen, wenn in der Schweiz wohl provisorische Rechtsöffnung erteilt würde, sich der Schuldner aber für die Aberkennungsklage an den im LugÜ erwähnten ausländischen Gerichtsstand, sei dies am Wohnsitz des Gläubigers (Art. 2 LugÜ), sei dies an einen besonderen Gerichtsstand (Art. 5 ff. LugÜ), wenden müsste; dies wäre indessen der Fall, wenn das Rechtsöffnungsverfahren nicht als materielles Erkenntnisverfahren qualifiziert würde (Staehelin, Basler Kommentar, Art. 84 SchKG N 24): Solche Folgen beabsichtigt das LugÜ mit seinem umfassenden System von Zuständigkeitsnormen gerade zu vermeiden. Zu Recht weist der Rekurrent schliesslich darauf hin, bei einer Einordnung des Verfahrens betreffend provisorische Rechtsöffnung unter Art. 16 Ziff. 5 LugÜ seien Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Erhebung der Aberkennungsklage nicht ausgeschlossen. Nach schweizerischem Recht sind im Aberkennungsverfahren wohl die Parteirollen vertauscht; hinsichtlich der Beweislastverteilung gilt indessen uneingeschränkt Art. 8 ZGB. In Vertragsstaaten des LugÜ, in welchen ein solches Verfahren mit Parteirollenumkehr unbekannt ist, könnte der Schuldner somit keine Aberkennungsklage einreichen (vgl. Markus, Provisorische Rechtsöffnung und Zuständigkeit nach dem Lugano-Übereinkommen, in: ZBJV 131, 1995, S. 335 f.). Mit praktischen Überlegungen - nebst dem klaren Wortlaut von Art. 16 Ziff. 5 LugÜ - begründete auch der Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts Zürich seinen Entscheid, eine Zuständigkeit zur provisorischen Rechtsöffnung am Arrestort als nicht gegeben zu erachten (ZR 97, 1998, Nr. 14 S. 44 f.).

d) Die Vorinstanz wies im Sinn einer Eventualbegründung darauf hin, zum gleichen Ergebnis, nämlich demjenigen, das angerufene Gerichtspräsidium sei für den Entscheid über das Rechtsöffnungsbegehren zuständig, gelange man auch, weil das provisorische Rechtsöffnungsverfahren eine vorsorgliche Massnahme im Sinn von Art. 24 LugÜ darstelle. Die Rekurskommission kann diese Auffassung nicht teilen. Zwar trifft zu, dass die Arrestlegung als einstweilige Massnahme zu betrachten ist (BJM 1994 S. 317 ff. mit zahlreichen Hinweisen). Das auf die Arrestprosequierung folgende Rechtsöffnungsverfahren kann jedoch nicht mehr unter den Begriff der "einstweiligen Massnahmen" fallen: Es fehlt am "in der Hauptsache zuständigen Gericht". Der Rekurrent weist zu Recht darauf hin, wolle man die provisorische Rechtsöffnung in Relation zu einem Hauptsacheverfahren stellen, käme als solches bloss das allenfalls daraufhin eingeleitete Aberkennungs- oder Anerkennungsverfahren in Betracht. Die provisorische Rechtsöffnung dient aber gerade nicht der Sicherung oder vorläufigen Vollstreckung der Ansprüche im Anerkennungsverfahren, denn dieses wird nur angestrengt, wenn dem Gläubiger keine provisorische Rechtsöffnung erteilt wurde. Im Aberkennungsverfahren nützt die provisorische Rechtsöffnung demgegenüber ohnehin nicht dem Schuldner, der dort als Kläger auftritt; sie dient aber auch nicht dem Gläubiger, da der Aberkennungsprozess ja die Hauptwirkung der provisorischen Rechtsöffnung, die Vollstreckung, verhindert. Zudem fehlt der provisorischen Rechtsöffnung das Element der Sicherung von Ansprüchen, welche durch die Dauer des Hauptverfahrens konkret gefährdet sind (Markus, Lugano-Übereinkommen und SchKG-Zuständigkeiten: Provisorische Rechtsöffnung, Aberkennungsklage und Zahlungsbefehl, Diss. Basel 1996, S. 111).

Rekurskommission, 16. August 1999, BR.1999.81


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