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RBOG 2021 Nr. 10

Über eine Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung ist mündlich zu verhandeln; Praxisänderung gegenüber RBOG 2001 Nr. 22


Art. 190 Abs. 2 SchKG, Art. 256 Abs. 1 ZPO


1. Der Beschwerdegegner gelangte an das Bezirksgericht und beantragte, es sei infolge Einstellung der Zahlungen über die Beschwerdeführerin der Konkurs ohne vorgängige Betreibung gemäss Art. 190 SchKG zu eröffnen. Die Einzelrichterin des Bezirksgerichts schützte das Konkursbegehren und eröffnete den Konkurs über die Beschwerdeführerin. Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde.

2. a) Die Beschwerdeführerin machte geltend, gemäss Art. 256 Abs. 1 ZPO sei für das summarische Verfahren zwingend eine Verhandlung durchzuführen, wenn das Gesetz dies vorsehe. Art. 190 Abs. 2 SchKG verlange bei der Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung ausdrücklich, dass der Schuldner vor Gericht zu laden und einzuvernehmen sei. RBOG 2001 Nr. 22, welcher das rein schriftliche Verfahren zulasse, sei nicht mehr relevant. Damals habe noch das "kantonal geregelte summarische Verfahren" gegolten; heute gelte die ZPO, welche andere Regeln kenne.

b) aa) Gemäss Art. 251 lit. a ZPO gilt das summarische Verfahren für Entscheide, die vom Konkursgericht getroffen werden. Das (summarische) Verfahren wird durch ein Gesuch eingeleitet[1]. Erscheint das Gesuch nicht offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet, so gibt das Gericht der Gegenpartei Gelegenheit, mündlich oder schriftlich Stellung zu nehmen[2]. Das Gesuch des Beschwerdegegners um Eröffnung des Konkurses ohne vorgängige Betreibung datiert hier vom 29. Juli 2020; die Vorinstanz gab der Beschwerdeführerin am 17. August 2020 Gelegenheit, schriftlich Stellung zu nehmen.

bb) Beweis ist im Summarverfahren durch Urkunden zu erbringen. Andere Beweismittel sind nur zulässig, wenn sie das Verfahren nicht wesentlich verzögern, es der Verfahrenszweck erfordert oder das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen hat[3]. Letzteres ist hier der Fall[4].

cc) Das Gericht kann auf die Durchführung einer Verhandlung verzichten und aufgrund der Akten entscheiden, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt[5]. Damit wurde der Entscheid, ob eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, ins Ermessen des Gerichts gestellt. Dieses Ermessen ist allerdings dort beschränkt, wo das Gesetz eine mündliche Verhandlung vorsieht[6]. Diesfalls stellt das Gericht der Gegenpartei das Gesuch zu und lädt beide Parteien zugleich zur Verhandlung vor[7].

dd) Über das Konkursbegehren muss kraft ausdrücklicher gesetzlicher Bestimmung[8] mündlich verhandelt werden[9]. Dies gilt gemäss Art. 190 Abs. 2 SchKG auch für die Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung. Danach wird der Schuldner, wenn er in der Schweiz wohnt oder in der Schweiz einen Vertreter hat, welche Voraussetzung hier mit Blick auf den Handelsregisterauszug erfüllt ist, mit Ansetzung einer kurzen Frist vor Gericht geladen und einvernommen.

Demgegenüber hielt der noch unter der ZPO TG ergangene RBOG 2001 Nr. 22 fest, zwar deute der Wortlaut von Art. 190 Abs. 2 SchKG eher auf eine mündliche Anhörung des Schuldners hin, doch enthalte die Bestimmung keinen eindeutigen Hinweis auf die Verfahrensart, weshalb kantonales Prozessrecht gelte. Gestützt auf § 162 Abs. 1 und 2 ZPO TG stehe es dem Konkursrichter frei, im Verfahren betreffend Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung - mit Ausnahme des Falls, in dem der Schuldner unbekannten Aufenthalts sei - eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den Schuldner mündlich einzuvernehmen oder ihm Gelegenheit zu geben, eine schriftliche Stellungnahme einzureichen[10]. Einzelne Kommentatoren von Art. 190 SchKG haben diesen Entscheid - vergleichsweise unkritisch - übernommen[11]. Das Bundesgericht liess die Frage - soweit ersichtlich - bislang offen[12].

Der mittlerweile rund 20 Jahre alte RBOG 2001 Nr. 22 argumentierte massgeblich damit, dass sich das Verfahren auch im Anwendungsbereich von Art. 190 Abs. 2 SchKG nach dem kantonalen Prozessrecht richte. Gemäss diesem stehe es dem Konkursrichter frei, den Schuldner mündlich einzuvernehmen oder ihm Gelegenheit zu schriftlicher Stellungnahme zu geben. Seit 2011 gilt indes schweizweit die eidgenössische ZPO, und diese schreibt nach Art. 256 Abs. 1 ZPO ("sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt") i.V.m. Art. 190 Abs. 2 SchKG vor, dass der Schuldner, der in der Schweiz wohnt und über den der Konkurs (ohne vorgängige Betreibung) eröffnet werden soll, mit Ansetzung einer kurzen Frist vor Gericht zu laden und einzuvernehmen ist. Dem Richter steht somit kein Ermessen zu. Er hat zu einer Verhandlung vorzuladen; ein schriftliches Verfahren ist nicht zulässig[13].

3. Damit ist die Beschwerde trotz rechtswirksam erfolgter Zustellung der Aufforderung zur Gesuchsantwort zu schützen. Dabei ist der angefochtene Entscheid aufzuheben, und die Streitsache ist zur Durchführung einer mündlichen Konkursverhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen[14]. Die Durchführung einer Konkursverhandlung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens kommt nicht in Frage; nur schon, weil mit Blick auf die Sachverhaltsfeststellung die Kognition der Beschwerdeinstanz eingeschränkt ist[15]. Es kommt hinzu, dass auch dem Prinzip der doppelten Instanzenzugs[16] Rechnung zu tragen ist, ansonsten den Parteien eine Instanz verloren ginge.

Obergericht, 2. Abteilung, 8. Januar 2021, BR.2020.51


[1] Art. 252 Abs. 1 ZPO

[2] Art. 253 ZPO

[3] Art. 254 Abs. 1 und 2 lit. a-c ZPO

[4] Art. 255 lit. a ZPO

[5] Art. 256 Abs. 1 ZPO

[6] Kaufmann, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 256 N. 6

[7] Art. 245 Abs. 1 ZPO analog; Mazan, Basler Kommentar, 3.A., Art. 256 ZPO N. 3

[8] Es handelt sich um die "lex specialis".

[9] Klingler, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 256 N. 1 mit Hinweis auf Art. 168 SchKG; Güngerich, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 256 ZPO N. 6; Kaufmann, Art. 256 ZPO N. 8

[10] RBOG 2001 Nr. 22 S. 150 f.

[11] Brunner/Boller, Basler Kommentar, 2.A., Art. 190 SchKG N. 27 (N. 26 bezieht sich nur auf die Einvernahme des Schuldners, nicht aber auf die Verhandlung.); Huber, in: Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz, Kurzkommentar (Hrsg.: Hunkeler), 2.A., Art. 190 N. 20

[12] Vgl. zum Beispiel BGE vom 6. Juni 2003, 5P.169/2003, Erw. 2

[13] Talbot, in: Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs (Hrsg.: Kren Kostkiewicz/Vock), 4.A., Art. 190 N. 20; im Übrigen sieht Art. 168 SchKG für die ordentliche Konkursbetreibung ebenfalls eine Verhandlung vor.

[14] Art. 327 Abs. 3 lit. a ZPO

[15] Art. 320 lit. b ZPO: Mit Beschwerde kann (nur) die "offensichtlich" unrichtige Feststellung des Sachverhalts geltend gemacht werden. Erfasst ist damit (nur) die "Willkür", das heisst der Verstoss gegen Art. 9 BV.

[16] "Double instance"; dieses Prinzip findet in Art. 75 Abs. 2 BGG seinen Ausdruck.

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