RBOG 2021 Nr. 22
Bestellung einer amtlichen Verteidigung bei notwendiger Verteidigung; Präzisierung von RBOG 2013 Nr. 26
Art. 130 StPO, Art. 131 Abs. 3 StPO, Art. 132 Abs. 1 StPO
1. a) Die Staatsanwaltschaft eröffnete eine Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer wegen Betrugs.
b) Im Verlauf des Verfahrens beantragte Rechtsanwältin X bei der Staatsanwaltschaft die Einsetzung als amtliche Verteidigerin. Ihrer Auffassung nach handle es sich um einen Fall notwendiger Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft antwortete daraufhin, sie sehe keinen Grund für die notwendige Verteidigung und legte ihrem Schreiben das Formular "Gesuch um amtliche Verteidigung" bei, welches der Beschwerdeführer anschliessend ausgefüllt einreichte.
c) Die Staatsanwaltschaft wies das Gesuch um amtliche Verteidigung ab. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde und beantragte unter anderem, Rechtsanwältin X sei für die Strafuntersuchung als notwendige amtliche Verteidigerin, eventuell als amtliche Verteidigerin, einzusetzen.
2. a) Der Beschwerdeführer macht unter anderem geltend, die Staatsanwaltschaft verkenne die gesetzliche Unterscheidung zwischen amtlicher Verteidigung bei notwendiger Verteidigung nach Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO und den übrigen Fällen der (unentgeltlichen) Verteidigung. Nur bei Letzteren verlange das Gesetz gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO (in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts) für eine staatliche Bevorschussung der Verteidigungskosten den Nachweis, dass die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfüge. Bei notwendiger Verteidigung setze die Bestellung eines Offizialverteidigers, dessen Kosten vom Staat (vorläufig) zu bevorschussen seien, nach Art. 132 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 130 StPO keinen Nachweis der finanziellen Bedürftigkeit des Beschuldigten voraus. Dabei verweist der Beschwerdeführer auf BGE 139 IV 113.
b) aa) Im Entscheid BGE 139 IV 113 erwog das Bundesgericht, bei notwendiger Verteidigung setze die Bestellung eines Offizialverteidigers, dessen Kosten vom Staat (vorläufig) zu bevorschussen seien, keinen Nachweis der finanziellen Bedürftigkeit des Beschuldigten voraus. Dass die Vorinstanz das gesetzliche Vorschlagsrecht bei der Ernennung des Offizialverteidigers davon abhängig mache, dass der Beschuldigte der Staatsanwaltschaft seine finanziellen Verhältnisse offenlege und der erbetene Verteidiger ihn dazu aktiv anhalten müsse, halte vor dem Bundesrecht nicht stand[1].
bb) Gemäss (neuerer) bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist die amtliche Verteidigung als subsidiär zur (privaten) Wahlverteidigung zu betrachten. Das Bundesgericht verneinte ausdrücklich, dass der Staat bei notwendiger Verteidigung stets das diesbezügliche Kostenrisiko zu tragen habe, wenn eine beschuldigte Person ein Gesuch um amtliche Verteidigung stelle. Ein Nebeneinander von Wahlverteidigung und amtlicher Verteidigung sei nicht völlig ausgeschlossen. Weiter sei auch bei der Anordnung der amtlichen Verteidigung das Vorschlagsrecht der beschuldigten Person gemäss Art. 133 Abs. 2 StPO zu beachten. Wenn die beschuldigte Person aber über eine Wahlverteidigung verfüge und deren Umwandlung in eine amtliche Verteidigung beantrage, so sei diese Konstellation nicht unter Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO einzuordnen. Vielmehr richte sich die Behandlung eines solchen Gesuchs (auch bei Fällen notwendiger Verteidigung) nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO und hänge somit von der finanziellen Bedürftigkeit der beschuldigten Person ab. Diese sei für den zuletzt genannten Punkt nachweispflichtig[2].
Wenn die beschuldigte Person eine Wahlverteidigung beauftragt habe und beim Antrag auf Umwandlung in eine amtliche Verteidigung ihre finanziellen Verhältnisse nicht offenlege, so lasse sich diese Situation nicht mit einem Fall von Bedürftigkeit nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO gleichsetzen. Ein solches Vorgehen gehe auch über das Vorschlagsrecht von Art. 133 Abs. 2 StPO hinaus. Vielmehr dürfe die Verfahrensleitung bei der fraglichen Konstellation grundsätzlich ohne weitere Abklärungen davon ausgehen, dass – zumindest einstweilen – eine wirksame private Rechtsvertretung gegeben sei. Diesen Grundsatz könne die beschuldigte Person nicht mit der blossen Behauptung, sie sei mittellos, umstossen. Die Verfahrensleitung sei bei der Anordnung einer amtlichen Verteidigung wegen Bedürftigkeit im Sinn von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO für ihre Abklärungen auf die Mitwirkung der beschuldigten Person angewiesen. Ein Anspruch auf Anordnung der amtlichen Verteidigung ohne Nachweis der finanziellen Bedürftigkeit bestehe bei notwendiger Verteidigung nur in einer Konstellation von Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO, das heisse bei Fehlen einer Wahlverteidigung. Nichts anderes ergebe sich aus BGE 139 IV 113[3].
c) aa) Mit dieser neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Argumentation des Beschwerdeführers, die sich auf BGE 139 IV 113 bezieht, überholt. Der angefochtene Entscheid ist somit nicht zu beanstanden, soweit die Staatsanwaltschaft die notwendige amtliche Verteidigung im Sinn von Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO und die amtliche Verteidigung im Sinn von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO verneint, weil der Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht habe, dass er nicht über die erforderlichen Mittel verfüge. Der Beschwerdeführer bestritt die diesbezügliche Begründung der Staatsanwaltschaft nicht.
bb) Unbehelflich ist der Einwand des Beschwerdeführers, aufgrund der ihm vorgeworfenen Delikte würde sich seine Rechtsanwältin dem Vorwurf der Gehilfenschaft zur Geldwäscherei aussetzen, wenn sie sich von ihm ihr Honorar bezahlen lasse und er später tatsächlich verurteilt werden würde. Die Staatsanwaltschaft stellte klar, dass die aktuellen Einnahmen und Vermögenswerte des Beschwerdeführers nicht Gegenstand dieser Strafuntersuchung sind.
3. a) Zu prüfen bleibt, ob bereits zum Zeitpunkt der ersten Einvernahme des Beschwerdeführers ein Fall von notwendiger Verteidigung vorlag. Der Beschwerdeführer bringt im Beschwerdeverfahren zusammengefasst vor, ihm habe bereits damals eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr gedroht, und es handle sich damit um einen Fall der notwendigen Verteidigung nach Art. 130 lit. b StPO. Es werde ihm Betrug und Geldwäscherei vorgeworfen. Die gesetzliche Strafandrohung liege bei drei beziehungsweise fünf Jahren; falls ein qualifizierter Strafbestand zum Tragen komme, wäre die Strafandrohung sogar bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Der Beschwerdeführer sei erstens vorbestraft, und zweitens sei zum Zeitpunkt der ersten Einvernahme noch ein weiteres Strafverfahren in einem anderen Kanton pendent gewesen, das mittlerweile mit einer Verurteilung zu einer unbedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen wegen Widerhandlung gegen das AIG[4] geendet habe; der Staatsanwaltschaft sei beides bekannt gewesen.
b) Nach Art. 130 lit. b StPO muss die beschuldigte Person unter anderem verteidigt werden, wenn ihr eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht. Ausschlaggebend ist nicht das abstrakt höchstmögliche, sondern das konkret zu erwartende Strafmass[5]. Ob der beschuldigten Person eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht, beurteilt sich anhand der äusseren Umstände des Tatvorwurfs. Entscheidend ist, ob der Grund notwendiger Verteidigung bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte erkannt werden können, wobei an die Erkennbarkeit keine hohen Anforderungen zu stellen sind[6]. Damit das Beweisverwertungsverbot von Art. 131 Abs. 3 StPO geltend gemacht werden kann, muss zum Zeitpunkt der Beweiserhebung erkennbar gewesen sein, dass es sich um einen Fall von notwendiger Verteidigung handelt[7]. Welches Delikt der beschuldigten Person vorgeworfen wird, soll sich nach einem Teil der Lehre in der Regel aus der Eröffnungsverfügung ergeben. Da diese aber erst mit Übernahme des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft erlassen wird, kann dieser Zeitpunkt zu spät sein. Wird etwa die Polizei vom Täter eines Tötungsdelikts selbst an den Tatort gerufen oder stellt sich dieser der Polizei, dann ist zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass es sich um einen Fall einer notwendigen Verteidigung handelt[8]. Gleiches gilt beispielsweise auch bei der Beschlagnahme einer grösseren Menge an Kokain[9].
c) aa) Die Kantonspolizei hielt dem Beschwerdeführer zu Beginn der ersten Einvernahme vor, aufgrund einer Meldung der Meldestelle für Geldwäscherei des Bundesamts für Polizei[10] sei gegen ihn eine Strafuntersuchung eröffnet worden. Es bestehe der Verdacht, dass er Teil eines betrügerischen Vertriebssystems sei. Konkret stehe im Raum, dass er von A Gelder erhalten habe, die entgegen der Zusicherung von A gegenüber dem Geschädigten B nicht für den Kauf von X verwendet worden seien, sondern von ihm mittels falscher Bezeichnungen wie "Kauf X" und "Verkauf X" auf seinem Konto an seine Kunden ausbezahlt und für eigene Zwecke verwendet worden seien.
bb) In rechtlicher Hinsicht stand damit der Tatbestand des Betrugs im Vordergrund. Die Strafdrohung beträgt gemäss Art. 146 Abs. 1 StGB Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe, bei Gewerbsmässigkeit gemäss Art. 146 Abs. 2 StGB Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe nicht unter 90 Tagessätzen. Unklar ist, ob die Staatsanwaltschaft auch noch im Hinblick auf den Tatbestand der Geldwäscherei ermittelte. Die MROS-Meldung sprach von einem Transaktionsmuster, das stark auf den Tatbestand der Geldwäscherei nach Art. 305bis StGB i.V.m. Betrug nach Art. 146 StGB hinweise. Es bestehe der begründete Verdacht, dass die auf dem Konto gutgeschriebenen Vermögenswerte zumindest teilweise aus einem Verbrechen herrühren könnten.
d) aa) Der Tatvorwurf, Teil eines betrügerischen Vertriebssystems zu sein, lässt ohne weiteres den Verdacht auf gewerbsmässigen Betrug aufkommen. Damit steht ein Strafrahmen von drei Tagen[11] bis zehn Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe nicht unter 90 Tagessätzen im Raum. Der Vorwurf, ein betrügerisches Vertriebssystem aufgebaut zu haben beziehungsweise Teil eines solchen Systems zu sein, wiegt nicht mehr leicht. Zudem ging es um erhebliche Summen: Die Kantonspolizei hielt dem Beschwerdeführer – gestützt auf die MROS-Meldung – Überweisungen von Fr. 320'000.00 und Fr. 150'000.00 vor. Der Beschwerdeführer bestätigte diese Beträge, welche direkt für den Kauf von X verwendet worden seien. In Bezug auf die Höhe des konkret zu erwartenden Strafmasses ist weiter zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer mehrfach vorbestraft ist, unter anderem auch wegen Vermögensdelikten (mehrfache Hehlerei und mehrfacher Diebstahl).
bb) Unter diesen Umständen lag eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr nahe, was von der Staatsanwaltschaft hätte erkannt werden können. Die Staatsanwaltschaft wendet dagegen bloss ein, ein allfälliger Deliktsbetrag sei noch unbestimmt gewesen, was unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass gemäss Aussagen der beschuldigten Person X gekauft worden und der Mitbeschuldigte nicht detailliert zur Sache habe einvernommen werden können. Der konkrete Deliktsbetrag ist angesichts der Umstände jedoch nicht entscheidend, zumal die Kantonspolizei dem Beschwerdeführer anlässlich der ersten Einvernahme Geldüberweisungen in sechsstelliger Höhe im Rahmen des verdachtsweise betrügerischen Vertriebssystems vorhielt.
e) Zusammengefasst hätte der Beschwerdeführer an der ersten Einvernahme notwendig verteidigt sein müssen. Da dies nicht der Fall war, ist die Einvernahme gemäss Art. 131 Abs. 3 StPO nur gültig, wenn der Beschwerdeführer auf ihre Wiederholung verzichtet.
Obergericht, 2. Abteilung, 11. November 2021, SW.2021.107
[1] BGE 139 IV 113 ff. (Regeste)
[2] BGE vom 28. August 2019, 1B_364/2019, Erw. 3.5
[3] BGE vom 28. August 2019, 1B_364/2019, Erw. 3.6
[4] Ausländer- und Integrationsgesetz, SR 142.20
[5] BGE 143 I 170; BGE vom 6. Dezember 2018, 1B_422/2018, Erw. 2.1
[6] BGE vom 2. August 2016, 6B_1069/2015, Erw. 1.2
[7] Ruckstuhl, Basler Kommentar, 2.A., Art. 131 StPO N. 7; vgl. Lieber, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 131 N. 11
[8] Ruckstuhl, Art. 131 StPO N. 8
[9] Lieber, Art. 131 StPO N. 13
[10] MROS
[11] Art. 40 Abs. 1 StGB