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RBOG 2023 Nr. 43

Voraussetzungen für die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Erfassung und einer DNA-Analyse; Würdigung einer DNA-Spur als Beweismittel

Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO Art. 259 StPO Art. 1 Abs. 2 lit. a DNA-Profil-Gesetz Art. 260 Abs. 1 StPO Art. 16 DNA-Profil-Gesetz Art. 261 StPO Art. 10 Abs. 2 StPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Das Bezirksgericht sprach den Berufungskläger in einem gemeinsamen Strafverfahren mit zwei mitbeschuldigten Personen unter anderem des Hausfriedensbruchs und des Missbrauchs von Ausweisen und Schildern schuldig. Im Berufungsverfahren verlangte er einen Freispruch.

Aus den Erwägungen:

[…]

3.2.

Somit ist neben der Würdigung der Beweise auch die Zulässigkeit der Beweise, namentlich der DNA-Entnahme, bestritten. Auf diese ist vorab einzugehen.

3.2.1.

3.2.1.1.

Es ist zu unterscheiden zwischen der DNA-Probenahme und der Analyse dieser Proben. Die Probenahme bei Personen kann auf zwei Arten erfolgen: invasiv oder nicht invasiv. In aller Regel erfolgt sie nicht invasiv, das heisst mittels Wangenschleimhautabstrich (WSA), ohne die Haut zu verletzen. Bei der Analyse wird das DNA-Profil erstellt, welches mit der DNA-Datenbank abgeglichen oder darin gespeichert werden kann[1]. Die Probenahme sowie die DNA-Analyse gilt als Zwangsmassnahme im Sinn der Strafprozessordnung. Somit hat sie grundsätzlich den Voraussetzungen für die Anordnung einer Zwangsmassnahme zu genügen; erstens muss eine gesetzliche Grundlage bestehen; zweitens muss ein hinreichender Tatverdacht vorliegen; drittens müssen die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können; und viertens muss die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigen[2].

Die gesetzliche Grundlage findet sich in Art. 255 bis Art. 258 StPO. Art. 259 StPO erklärt im Übrigen das DNA-Profil-Gesetz[3] für anwendbar. Gemäss Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO kann von der beschuldigten Person zur Aufklärung eines Verbrechens oder eines Vergehens eine Probe genommen und ein DNA-Profil erstellt werden. Aus diesem Wortlaut kann zwar abgeleitet werden, ein solches Vorgehen sei nur möglich zur Abklärung bereits begangener und den Strafverfolgungsbehörden bekannter Delikte, deren die beschuldigte Person verdächtigt wird. Jedoch entspricht eine derartige enge Auslegung nicht dem Sinn und Zweck der Bestimmung. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist diese Bestimmung über den Wortlaut, die Systematik und auch den richtig besehenen teleologischen Gehalt einer strafprozessualen Zwangsmassnahme hinaus dahingehend zu interpretieren, dass die Probenahme und DNA-Profilerstellung auch zur Aufklärung anderer bereits begangener Delikte, für die noch kein Tatverdacht bestand, oder gar zur Aufklärung zukünftiger Delikte zulässig ist. Wie aus Art. 259 StPO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 lit. a DNA-Profil-Gesetz klar hervorgeht, ist die Erstellung eines DNA-Profils auch erlaubt, um Täter von Delikten zu identifizieren, die den Strafverfolgungsbehörden noch unbekannt sind. Dabei kann es sich um vergangene oder künftige Delikte handeln. Das DNA-Profil kann so Irrtümer bei der Identifikation einer Person und die Verdächtigung Unschuldiger verhindern. Es kann auch präventiv wirken und damit zum Schutz Dritter beitragen. Auch hinsichtlich derartiger Straftaten bildet Art. 255 Abs. 1 lit. a StPO eine gesetzliche Grundlage für die DNA-Probenahme und -Profilerstellung[4]. Art. 255 StPO ermöglicht aber nicht bei jedem hinreichenden Tatverdacht die routinemässige (invasive) Entnahme von DNA-Proben, geschweige denn deren generelle Analyse[5].

Das zur DNA-Probenahme und -Profilerstellung Ausgeführte gilt gleichermassen für die erkennungsdienstliche Erfassung gemäss Art. 260 Abs. 1 StPO, mit dem Unterschied, dass diese auch für Übertretungen angeordnet werden kann[6]. Bei der erkennungsdienstlichen Erfassung werden die Körpermerkmale einer Person festgestellt und Abdrücke von Körperteilen genommen[7]. Weil es sich hierbei um eine Zwangsmassnahme handelt, sind die Voraussetzungen für die Anordnung solcher Massnahmen zu beachten. Mithin bedarf die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung im Sinn von Art. 197 Abs. 1 StPO einer gesetzlichen Grundlage sowie eines hinreichenden Tatverdachts. Zudem ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten und die Bedeutung der Straftat muss die Anordnung dieser Zwangsmassnahme rechtfertigen[8]. Ferner darf die erkennungsdienstliche Massnahme, wie auch die DNA-Analyse, nicht routinemässig erfolgen[9]. Die erkennungsdienstliche Erfassung ist nicht auf die beschuldigte Person beschränkt. Sie kann auch präventiv wirken und damit zum Schutz Dritter beitragen[10]. Dadurch, dass erkennungsdienstliche Massnahmen lediglich leichte Eingriffe in die Persönlichkeit der betreffenden Person darstellen, sind sie nicht nur gegenüber dieser betroffenen Person, sondern auch gegenüber Dritten zulässig[11].

3.2.1.2.

Was die Aufbewahrung von DNA-Profilen betrifft, ist Art. 16 DNA-Profil-Gesetz einschlägig. Bei den in Art. 16 Abs. 1 DNA-Profil-Gesetz alternativen Löschungsvoraussetzungen handelt es sich um Konstellationen, in welchen gegenüber einer Person keine Verurteilung ergangen ist. Demnach sind DNA-Profile ein Jahr nach der definitiven Einstellung des Verfahrens zu löschen[12]. Mit der in der zweiten Jahreshälfte 2023 in Kraft getretenen Revision des DNA-Profil-Gesetzes hat sich daran nichts geändert[13]. DNA-Profile sind gemäss den Art. 16 bis 19 des DNA-Profil-Gesetzes von Amtes wegen durch das fedpol[14] aus der DNA-Datenbank CODIS zu löschen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind[15]. Demnach sind DNA-Profile sowohl nach altem wie nach neuem Recht ein Jahr nach der definitiven Einstellung des Verfahrens zu löschen[16].

Die Aufbewahrung und Verwendung erkennungsdienstlicher Unterlagen bestimmt sich nach Art. 261 StPO. Gemäss der am 30. September 2019 geltenden Fassung durften erkennungsdienstliche Unterlagen über die beschuldigte Person ausserhalb des Aktendossiers im Fall eines Freispruchs aus andern Gründen, der Einstellung oder der Nichtanhandnahme eines Verfahrens bis zur Rechtskraft des Entscheids aufbewahrt werden und, sofern ein hinreichender Tatverdacht auf ein neues Delikt bestand, auch verwendet werden[17]. Nach aktuellem Recht finden auf die Aufbewahrungs- und Verwendungsfrist die Fristen für die Löschung von DNA-Profilen nach Art. 16 bis Art. 18 DNA-Profil-Gesetz analog Anwendung[18]. In Anwendung der lex mitior[19], wonach Strafbestimmungen des bisherigen Rechts anzuwenden sind, sofern die Bestimmungen des neuen Rechts für die beschuldigte Person nicht milder sind, gelten für die erkennungsdienstliche Erfassung die Löschungsfristen nach der alten Regelung, namentlich bis zur Rechtskraft der Verfahrenseinstellung.

3.2.2.

3.2.2.1

Vorliegend basiert die erkennungsdienstliche Erfassung des Berufungsklägers auf zwei Ermittlungsaufträgen an die Polizei im Sinn von Art. 306 StPO. Demgemäss hätten die Mitbeschuldigte und der Mitbeschuldigte abgestritten, für den Diebstahl des Fahrzeugs verantwortlich zu sein und stattdessen den Berufungskläger beschuldigt. Mittels Befehl wurde einige Tage später sodann die erkennungsdienstliche Erfassung gemäss Art. 260 Abs. 1 StPO sowie der Wangenschleimhautabstrich nach Art. 255 StPO zwecks DNA-Analyse gegenüber dem Berufungskläger verfügt.

Gemäss dem darauffolgenden Bericht der Kantonspolizei wurde der Berufungskläger am Tag der Ausstellung des Befehls einvernommen und anschliessend (am selben Tag) die erkennungsdienstliche Erfassung mit Wangenschleimhautabnahme durchgeführt. Die Aussagen des Berufungsklägers, wonach dieser bei der Fahrzeugentwendung nicht beteiligt gewesen sei, würden gemäss diesem Bericht als glaubhaft erscheinen.

Im Zeitpunkt der Anordnung und auch Durchführung der erkennungsdienstlichen Erfassung und der Wangenschleimhautabnahme zwecks DNA-Analyse war somit ein Tatverdacht vorliegend, da der Berufungskläger von zwei Personen beschuldigt wurde. Abgesehen davon ist auf das Ausgeführte zu verweisen, wonach ein DNA-Profil auch zur Aufklärung anderer bereits begangener Delikte, für die noch kein Tatverdacht bestand oder gar zur Aufklärung zukünftiger Delikte zulässig ist. Somit erfolgte die Abnahme der DNA rechtmässig.

[…]

3.4.5.2.

Das Beweismaterial ist zunächst immer auf seine grundsätzliche Eignung und Qualität hin zu beurteilen[20]. Bei der Würdigung der DNA-Spur sind verschiedene Ebenen zu betrachten. Es ist zu analysieren, von wem die Spur stammt (Identitätsebene), aus welchem biologischen Material die Spur besteht (Ursprungsebene) und auch, wie die Spur an den Tatort gekommen sein mag (Aktivitätsebene).

Die Identitätsebene gibt Auskunft darüber, von welcher Person eine Spur stammt. Dabei ist es möglich, dass eine Spur einer Person zuzuordnen ist, aber auch dass eine Spur eine Mischung aus DNA von mehreren Personen ausweist oder die Analyse zu unvollständigen DNA-Profilen führt[21]. DNA-Mischspuren sind Spuren, in welchen sich DNA von mehr als einer Person befindet, in zuweilen unterschiedlicher Menge und variabler Qualität. Anders als bei herkömmlichen einfachen Spuren, die nur DNA einer Person enthalten und ein vollständiges DNA-Profil ergeben, sind gewisse (unvollständige) DNA-Mischprofile häufig sogar für Sachverständige nur sehr schwierig, wenn überhaupt, interpretierbar. Der Bewertung komplexer DNA-Mischprofile werden diffusere Hypothesen zugrunde gelegt: Es geht dabei nicht mehr um die eng umrissene Frage, ob die detektierte DNA von einer bestimmten Person stammt, sondern lediglich darum, ob eine bestimmte Person zum Kreis der Personen gehört, von welchen DNA detektiert wurde[22]. In Fällen, in denen eine Hauptkomponente überwiegt, lässt sich trotz der Nebenkomponenten relativ einfach eine DNA-Hauptprofil erstellen[23].

Die Ursprungsebene befasst sich damit, welches biologische Material eine Spur enthält, das heisst, welchem Körpergewebe die DNA zugrunde liegt. Gesucht wird nach bestimmten Gewebe- oder Sekretarten (beispielsweise Blut, Speichel, Sperma), die als biologischer Ursprung in Betracht kommen[24].

Die Aktivitätsebene betrifft die Handlung, mit welcher die Spur gelegt wurde. Es ist zu berücksichtigen, dass eine solche Spur vor, während oder nach der Tat angetragen worden sein kann. Ausserdem ist sowohl ein direkter als auch ein indirekter Spurentransfer möglich[25]. Bei der direkten Spurenübertragung gelangt Spurenmaterial vom Spurengeber bei einem direkten Kontakt auf die Spurennehmeroberfläche, was im Normalfall persönliche, das heisst physische Anwesenheit der verdächtigen Person bedingt. Bei der indirekten Spurenübertragung, einem sogenannten Sekundärtransfer, wird DNA-Material via ein intermediäres Objekt oder eine Person indirekt übertragen. Auch mehrstufige Übertragungen – beispielsweise von einer Person auf ein Objekt, anschliessend vom Objekt zu einer weiteren Person und schliesslich von dieser weiteren Person an den Tatort – werden unter den Begriff indirekter Transfer subsumiert[26].

Das Vorhandensein einer DNA-Spur gibt nur in seltenen Fällen Auskunft über den möglichen Übertragungsweg. Bei latenten Spuren, bei denen das zugrundeliegende Körpergewebe in der Regel nicht bekannt ist, lässt die Intensität der Spur möglicherweise einen eingeschränkten Rückschluss auf den Übertragungsweg zu. Da bei jedem möglichen Transfer realistisch nur ein Teil der DNA-Menge übertragen wird, sind insbesondere DNA-Spuren mit hohem DNA-Gehalt und vollständig nachweisbaren DNA-Profilen über einen direkten Transfer häufig plausibler zu erklären als durch einen indirekten Transfer. Dies gilt insbesondere für Spuren, welche die DNA einer einzelnen Person enthalten, da bei einem Transferergebnis durch eine Person oder einen Gegenstand die DNA oft nicht selektiv weitergegeben wird, sondern sich dort mit der bereits vorhandenen Hintergrund-DNA zu einer Mischung vereint[27]. Dies trifft häufig für isoliert auftretende, latente DNA-Spuren zu, deren Ursprung nicht nachgewiesen werden konnte, da es sich beispielsweise um mögliche Hautschuppenabriebe handelt[28].

Gemäss einem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Zürich in einem vom Obergericht Zürich zu beurteilenden Fall ist bei einer indirekten Übertragung eines Mischprofils eher der direkte Spurenleger als Urheber des Hauptprofils zu erwarten und bloss ein DNA-Nebenprofil des indirekten Spurenlegers. Nicht plausibel sei deshalb, dass ein DNA-Hauptprofil mittels Sekundärtransfer übertragen werde, ohne die eigene DNA zu hinterlassen. Dennoch räumte das Gutachten ein, dass DNA-Übertragungsmechanismen von vielen nicht kontrollierbaren Faktoren abhängen würden[29].

Gemäss Lehre und Rechtsprechung spielt nicht nur die Art des Materials und die Oberflächenbeschaffenheit des primären Gegenstandes, von dem die DNA-Spur übertragen wird, und die Art des Materials sowie die Oberflächenbeschaffenheit des Gegenstandes, auf welchen die DNA-Spur letztlich übertragen wird, eine wesentliche Rolle, sondern auch die Art der Spur, beispielsweise Hautzellen oder Körpersekrete wie Speichel, Blut und dergleichen sowie der Zustand der Spur, ob feucht oder trocken. Entscheidend für die Transferrate sei auch die Art, die Dauer und Intensität der Berührung. Reibung verstärkt im Vergleich zu passivem Kontakt oder Druck eine Übertragung. Auch die Hautfeuchtigkeit einer Person ist massgebend[30]. Ferner fällt in Betracht, dass die Möglichkeit eines Sekundärtransfers auch unter dem Blickwinkel der modernen und sehr sensitiven DNA-Testmethode zu beachten ist, wobei gemäss Lehre geringste DNA-Mengen für die Profilerstellung genügen würden[31]. Die Anzahl weiterer, am Tatort aufgefundener Spuren einer beschuldigten Person kann die Einschätzung beeinflussen, ob es sich um einen direkten oder indirekten DNA-Transfer handelt. Das Gericht wird im Rahmen der Beweiswürdigung zu prüfen haben, ob es aus der Anzahl der am Tatort aufgefundenen Spuren einen Rückschluss auf die Wahrscheinlichkeit der DNA-Übertragung zu ziehen vermag[32].

Auch das Bundesgericht hat sich regelmässig mit DNA-Spuren, Mischspuren, Haupt- und Nebenprofilen sowie indirekter Übertragung zu befassen. Wie die Verteidigung zu Recht vorträgt, bestanden in jenen Entscheiden, soweit der entsprechende Sachverhalt aus diesen Entscheiden hervorgeht, jeweils weitere Indizien für den angeklagten Sachverhalt[33]. Auch hält das Bundesgericht fest, dass eine DNA-Spur für sich genommen die Täterschaft nicht schon beweist[34]. Vielmehr ist das Beweismaterial zunächst auf seine grundsätzliche Eignung und Qualität hin zu beurteilen und müssen die Tatumstände und die Umstände ihres Zustandekommens einbezogen werden. Dabei sind unter Tatumständen rechtserhebliche Tatsachen zu verstehen, die unmittelbar mit der Begehung der Tat zusammenhängen. Eine "Spur" ist ein nach den Tatumständen mehr oder weniger starkes Indiz. Es verhält sich mit der DNA-Analyse nicht prinzipiell anders als mit jedem andern Sachverhaltselement oder Indiz für sich genommen. Das Gericht hat die Beweise von Gesetzes wegen frei nach seiner aus dem gesamten Verfahren gewonnenen Überzeugung zu würdigen[35].

3.4.5.3.

Unter Beachtung der Identitätsebene ist gemäss dem Bericht des Kriminaltechnischen Dienstes von einem Mischprofil auszugehen, wobei das Hauptprofil mit der DNA des Berufungsklägers übereinstimmt und das Nebenprofil nicht identifizierbar ist. Somit liegt ein sehr starkes Beweismittel dafür vor, dass der Berufungskläger der Spurengeber ist. Dies spricht jedoch noch nicht zwingend dafür, dass der Berufungskläger auch am Tatort gewesen ist. Diese Frage ist unter Beachtung der Aktivitätsebene zu behandeln.

Dem Bericht des kriminaltechnischen Dienstes lässt sich nicht entnehmen, ob vor der DNA-analytischen Auswertung eine Spurenartbestimmung durchgeführt wurde. Es steht deshalb nicht fest, ob es sich beim Spurenmaterial um Hautschuppen, Haare oder Körperflüssigkeiten – wie beispielsweise Speichel oder Schweiss – handelt. Um die Wahrscheinlichkeit eines indirekten Transfers im konkreten Einzelfall beurteilen zu können, müssten die konkreten Bedingungen der Übertragung bekannt sein. Die Möglichkeit eines Sekundärtransfers wurde jedoch nicht abgeklärt. Dementsprechend sind auch die Umstände der Spurenentstehung offen.

Unter diesen Umständen ist die DNA-Analyse zwar als klares Indiz für die Beteiligung des Berufungsklägers an der Entwendung zu werten, allerdings beweist diese DNA-Spur allein noch nicht ohne unüberwindbaren Zweifel, dass sich der Sachverhalt wie angeklagt abgespielt hat. Durch dieses Beweismittel wird eine mögliche Übertragung der DNA des Berufungsklägers auf die zur Diskussion stehende Kontrollschildhalterung, ohne dass dieser in der Tatnacht vor Ort und damit direkt an der Entwendung der Kontrollschilder und des Fahrzeugs beteiligt war, nicht zweifelsfrei ausgeschlossen.

3.5.

In Anbetracht der gegebenen Beweislage, wonach einzig die an der vorderen Kontrollschildhalterung sichergestellte DNA-Spur den Berufungskläger belastet, mithin keine weiteren Hinweise oder Indizien vorliegen, kann nicht allein auf diese abgestellt werden. Im Gegenteil stehen dem Belastungsindiz der sichergestellten DNA-Spur die glaubhaften Depositionen des Berufungsklägers sowie jene von der Mitbeschuldigten und des Mitbeschuldigten gegenüber, wonach der Berufungskläger beim Diebstahl des Fahrzeugs und der Entwendung der Kontrollschilder in der Tiefgarage nicht dabei gewesen sei.

Werden sodann die äusseren Fallumstände betrachtet beziehungsweise die Ergebnisse mit den äusseren Begebenheiten verknüpft, lassen sich ‒ wie die Verteidigung zu Recht ausführte ‒ ebenfalls Anhaltspunkte erkennen, die für eine Abwesenheit des Berufungsklägers am Tatort sprechen. Bemerkenswert ist das in der Tiefgarage aufgefundene Damenfahrrad, welches den Schluss nahelegt, dass die Mitbeschuldigte damit in die Tiefgarage gefahren ist. So wurden an diesem Fahrrad mehrere DNA-Spuren der Mitbeschuldigten aufgefunden, nicht jedoch des Berufungsklägers. Es ist zwar nicht unmöglich, dass die Mitbeschuldigte ein Fahrrad mit in die Tiefgarage nahm und der Berufungskläger zu Fuss kam, jedoch stellt dies ein vom Normalfall abweichender Zustand dar. Wenn die beiden die Tat gemeinsam vollbracht hätten, wäre eher davon auszugehen, dass sie sich gemeinsam in die Tiefgarage begeben hätten.

Desweitern schloss die Verteidigung auf ein fehlendes Motiv des Berufungsklägers. Zwar kann als Anlass für eine allfällige Tatbeteiligung des Berufungsklägers die unbestrittene nähere Bekanntschaft zwischen ihm und der Mitbeschuldigten gewertet werden sowie dass der Berufungskläger jeweils mit dem Fahrzeug mitfahren durfte. Jedoch ist diese mögliche Erklärung für sich allein zu wenig stichhaltig, um die verbleibenden Zweifel zu entschärfen.

Diverse weitere erhobene Beweismittel liefern keine hinreichenden Indizien für eine Tatbeteiligung des Berufungsklägers. Ergebnislos verlief etwa ein Abgleich von Spuren an der hinteren Kontrollschildhalterung und die Hausdurchsuchung.

Auch wenn vorliegend eine indirekte Spurenübertragung weniger wahrscheinlich ist als eine direkte Übertragung, bleiben bei einer Gesamtwürdigung und mangels weiterer Indizien gewisse nicht zu unterdrückende Zweifel daran, dass der Berufungskläger beim angeklagten Diebstahl in der Tiefgarage anwesend gewesen ist. Bei diesem Beweisergebnis ist trotz der ihn belastenden DNA-Analyse in Anwendung des Grundsatzes "in Zweifel für den Angeklagten[36]" von der für den Berufungskläger günstigeren Sachlage auszugehen[37].

Folgerichtig ist anzunehmen, dass der Berufungskläger am Diebstahl des Fahrzeugs und der Kontrollschilder in der Tiefgarage nicht beteiligt gewesen ist. Geständig ist der Berufungskläger jedoch dahingehend, dass er mit diesem entwendeten Fahrzeug mitgefahren sei und dies auch am Tag der Entwendung. So erklärte er anlässlich der Berufungsverhandlung, an diesem Abend von der Mitbeschuldigten abgeholt worden zu sein. Auch die Mitbeschuldigte erwähnte, dass der Berufungskläger jeweils mit ihr mitgefahren sei. Somit ist der Sachverhalt dahingehend erstellt, dass der Berufungskläger nach der Entwendung im Fahrzeug Platz nahm und mit der Mitbeschuldigten auf dem Fahrersitz davongefahren ist.

3.6.

Gestützt auf dieses Beweisergebnis ist der Berufungskläger von den Vorwürfen des Missbrauchs von Schildern und Ausweisen und des Hausfriedensbruchs freizusprechen.

[…]

Obergericht, 1. Abteilung, 7. September 2023, SBR.2023.31


[1]    Fricker/Maeder, Basler Kommentar, 3.A., Art. 255 StPO N. 3

[2]    Art. 197 Abs. 1 StPO

[3]    SR 363

[4]    BGE 145 IV 265 f.; BGE vom 12. März 2019, 1B_13/2019 und 1B_14/2019, Erw. 2.1; BGE vom 6. März 2018, 1B_274/2017, Erw. 2.1; BGE vom 22. April 2021, 1B_287/2020 und 1B_293/2020, Erw. 2.1

[5]    BGE vom 22. April 2021, 1B_287/2020 und 1B_293/2020, Erw. 2.1; BGE 141 IV 92

[6]    BGE vom 22. April 2021, 1B_287/2020 und 1B_293/2020, Erw. 2.1; BGE vom 3. Dezember 2019, 1B_336/2019, Erw. 3.3.

[7]    Art. 260 Abs. 1 StPO

[8]    Beydoun/Santschi, Basler Kommentar, 3.A., Art. 260 StPO N. 2; BGE 141 IV 92

[9]    BGE vom 22. April 2021, 1B_287/2020 und 1B_293/2020, Erw. 2.1

[10]  BGE vom 22. April 2021, 1B_287/2020 und 1B_293/2020, Erw. 2.1

[11]  BGE vom 22. April 2021, 1B_287/2020 und 1B_293/2020, Erw. 2.1; BGE 134 III 247

[12]  Art. 16 Abs. 1 lit. d aDNA-Profil-Gesetz

[13]  Botschaft zur Änderung des DNA-Profil-Gesetzes vom 4. Dezember 2020, BBI 2021 S. 56

[14]  Bundesamt für Polizei

[15]  Botschaft zum Strafregistergesetz vom 20. Juni 2014, BBl 2014 S. 5814; Betticher, Die DNA-Analyse nach Schweizerischer Strafprozessordnung, Freiburg 2023, N. 569

[16]  Art. 16 Abs. 1 lit. d DNA-Profil-Gesetz; Art. 16 Abs. 1 lit. d aDNA-Profil-Gesetz

[17]  Art. 261 Abs. 1 lit. b aStPO

[18]  Art. 261 Abs. 1 lit. a StPO

[19]  Art. 2 StGB; vgl. BGE 142 IV 404; BGE vom 23. Juni 2021, 6B_536/2020, Erw. 4

[20]  BGE 144 IV 349

[21]  Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, Möglichkeiten und Grenzen der forensischen DNA-Analyse unter dem Gesichtspunkt verschiedener Szenarien zur Spurenentstehung, in: Rechtsmedizin 5/2021 S. 397

[22]  Biedermann/Vuille, Was ist der Beweiswert von DNA-Analyseergebnissen?, in: ZStrR 2023, S. 277

[23]  Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 28. Januar 2016, SB150444, Erw. 13.1

[24]  Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 397

[25]  TPF vom 14. März 2023, CA.2022.2, Erw. II.2.4; Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 399

[26]  Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 398 f.

[27]  Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 399 f.

[28]  Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 399

[29]  Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 28. Januar 2016, SB150444, Erw. 14

[30]  BGE vom 25. September 2020, 6B_889/2020, Erw. 3 mit Verweis auf ein Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin vom 29. November 2016; Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 29. Mai 2020, SB200041, Erw. 4.7; Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 400

[31]  Cale, Forensic DNA evidence is not infallible, in: Nature 2015 S. 611

[32]  Vennemann/Oppelt/Grethe/Anslinger, S. 399; Biedermann/Vuille, S. 273 f.

[33]  BGE vom 29. April 2015, 6B_1209/2014, Erw. 1; BGE vom 27. November 2014, 6B_1049/2014, Erw. 2; BGE vom 4. August 2016, 6B_291/2016, Erw. 2.3-2.5; BGE vom 1. September 2020, 6B_459/2020, Erw. 4.3; BGE vom 22. Juni 2022, 6B_ 362/2022, Erw. 1.2.1 ff.

[34]  BGE vom 1. September 2020, 6B_459/2020, Erw. 4.3; vgl. auch BGE vom 25. September 2020, 6B_889/2020, Erw. 4.2

[35]  BGE vom 1. September 2020, 6B_459/2020, Erw. 4.3

[36]  "In dubio pro reo"

[37]  Art. 10 Abs. 3 StPO


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