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RBOG 2024 Nr. 17

Unzulässiger Vorausverzicht auf eine Begründung und die Erhebung eines Rechtsmittels, wenn der Entscheid Offizialpunkte betrifft

Art. 238 lit. f ZPO Art. 238 lit. g ZPO Art. 239 Abs. 1 lit. b ZPO Art. 239 Abs. 2 ZPO Art. 289 ZPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Gestützt auf ein gemeinsames Scheidungsbegehren schied die Einzelrichterin des Bezirksgerichts die Ehe der Parteien und regelte die Nebenfolgen. Unter dem Titel "Rechtsmittel" hielt die Richterin fest, die Parteien hätten in der Scheidungsvereinbarung auf eine schriftliche Begründung dieses Entscheids und auf dessen Anfechtung verzichtet, womit der Entscheid mit seiner Zustellung in Rechtskraft erwachse. Auf ein vom Berufungskläger beim Bezirksgericht eingereichtes Revisionsgesuch trat die gleiche Einzelrichterin ein. Gegen diesen Entscheid erhob der Berufungskläger Berufung.

Aus den Erwägungen:

1.

1.1.

Die Parteien reichten beim Bezirksgericht gemeinsam das Begehren auf Scheidung ihrer Ehe ein. Demnach richtet sich das Verfahren nach Art. 285 ff. ZPO. Gemäss Art. 287 ZPO lädt das Gericht die Parteien zur Anhörung vor. Sind die Voraussetzungen für eine Scheidung auf gemeinsames Begehren sodann erfüllt, so spricht das Gericht die Scheidung aus und genehmigt die Vereinbarung[1]. Die Scheidung der Ehe kann nur wegen Willensmängel mit Berufung angefochten werden[2]. Willensmängel liegen vor, wenn der Entschluss zur Scheidung mit einem Mangel in der Willensbildung behaftet ist. In Analogie zum OR fallen darunter die Übervorteilung[3], die absichtliche Täuschung[4], die Furchterregung[5] und der Grundlagenirrtum[6]. Art. 289 ZPO bezieht sich allerdings nur auf den Scheidungspunkt, also auf die Auflösung der Ehe, und ist grundsätzlich nicht anwendbar auf die Nebenfolgen der Scheidung. Mit der gerichtlichen Genehmigung wird indessen die Scheidungskonvention zum vollwertigen Urteilsbestandteil erhoben und verliert im Gegensatz zum Prozessvergleich ihren privatrechtlichen Charakter[7]. Als Bestandteil des Urteils untersteht somit die genehmigte Scheidungskonvention der Anfechtung mittels ordentlicher Rechtsmittel[8]. Bei den vereinbarten Scheidungsfolgen steht die Berufung wegen Willensmängel im Vordergrund. Sodann kann gerügt werden, die richterliche Genehmigung hätte nicht erteilt werden dürfen, weil die Vereinbarung unklar, unvollständig oder offensichtlich unangemessen[9], hinsichtlich der beruflichen Vorsorge gesetzeswidrig[10] oder widerrechtlich sei oder gegen zwingendes Recht verstosse[11].

1.2.

So gesehen ist der angefochtene Entscheid mit der Berufung nach Art. 308 ff. ZPO anfechtbar. Dem ist nach Dafürhalten der Vorinstanz jedoch hier nicht so, weil die Parteien in Ziff. 15 der Scheidungskonvention vereinbart hätten, auf eine Begründung und Anfechtung des Entscheids zu verzichten.

2.

2.1.

2.1.1.

Gemäss Art. 238 lit. f ZPO, welche Bestimmung nach Art. 219 ZPO grundsätzlich auch für den Entscheid nach Art. 288 Abs. 1 ZPO gilt, enthält der Entscheid eine Rechtsmittelbelehrung, sofern die Parteien auf die Rechtsmittel nicht verzichtet haben. Das haben die Parteien in Ziff. 15 der Scheidungskonvention getan.

2.1.2.

Der Entscheid enthält gegebenenfalls die Entscheidgründe[12]. Gegebenenfalls deshalb, weil das Gericht seinen Entscheid nach Art. 239 Abs. 1 ZPO auch ohne schriftliche Begründung eröffnen kann. Eine schriftliche Begründung ist nachzuliefern, wenn eine Partei dies innert zehn Tagen seit der Eröffnung des Entscheids verlangt. Wird keine Begründung verlangt, so gilt dies als Verzicht auf die Anfechtung des Entscheids mit Berufung oder Beschwerde[13]. Nachdem die Parteien in Ziff. 15 der Scheidungskonvention auf die Begründung des Entscheids verzichtet haben, war so gesehen entbehrlich, die Parteien darüber zu belehren, dass sie innert zehn Tagen seit der Eröffnung des Entscheids eine Begründung verlangen können.

2.2.

2.2.1.

Allerdings bestritt der Berufungskläger mit der Berufung die Wirksamkeit des Begründungs- und Rechtsmittelverzichts gemäss Ziff. 15 der Scheidungskonvention. […]

3.

3.1.

Gemäss dem Bundesgericht folgt aus Art. 238 lit. f ZPO, dass eine Prozesspartei schon vor der Eröffnung eines Entscheids auf ein Rechtsmittel verzichten kann. Dieser Norm zufolge braucht der Richter seinen Entscheid nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung zu versehen, wenn die Parteien auf die Rechtsmittel verzichtet haben. Nach der bundesgerichtlichen Praxis zur eidgenössischen Berufung gemäss Art. 43 ff. OG[14] ist ein Vorausverzicht – und erst recht ein Verzicht nach der Urteilsfällung – zulässig, soweit die Parteien über den Streitgegenstand frei verfügen können[15]. An dieser Stelle des Entscheids 5A_811/2014 verweist das Bundesgericht auf BGE 113 Ia 26 E. 3.b. Dort heisst es: "Wie das Kassationsgericht geht auch der Beschwerdeführer davon aus, dass gültig im Voraus auf die Berufung an das Bundesgericht verzichtet worden sei. Das lässt sich auf eine alte Rechtsprechung stützen, die einen solchen Vorausverzicht zulässt, wenn ein Streitobjekt vorliegt, über das die Parteien frei verfügen können. Demgegenüber sind die höchstpersönlichen und unveräusserlichen subjektiven Rechte der Parteidisposition entzogen und damit als Prozessgegenstand einem Rechtsmittelverzicht nicht zugänglich. Dazu zählen etwa persönliche Status- und Familienrechte, gewisse Persönlichkeitsrechte (im wirtschaftlichen Bereich namentlich die Schutzrechte aus Art. 27 ZGB) oder die unverjährbaren und unverzichtbaren Grundrechte. Ein in diesem Sinn unzulässiger Verzicht auf die Berufung könnte jedoch nicht dazu führen, dass anstelle der Berufung die staatsrechtliche Beschwerde zuzulassen wäre, sondern hätte vielmehr zur Folge, dass trotz Verzichts auf eine Berufung eingetreten werden müsste." Diese Grundsätze gelten, so das Bundesgericht weiter in E. 3 von 5A_811/2014, nach zutreffender Ansicht auch für die Berufung nach Art. 308 ff. ZPO.

Im Entscheid 5A_811/2014 ging es um einen Prozess um Mündigenunterhalt nach Art. 277 Abs. 2 ZGB und damit um einen Streitgegenstand, über den die Parteien laut Bundesgericht frei verfügen konnten, weshalb sie auch auf ein Rechtsmittel verzichten konnten. Angesichts dessen, so das Bundesgericht, brauche es nicht aus eigenem Antrieb der Frage nachzugehen, ob Art. 296 Abs. 3 ZPO, der für Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten den Offizialgrundsatz vorschreibe, auch in einer Streitigkeit wie der vorliegenden zur Anwendung gelange und einem Rechtsmittelverzicht vor Eröffnung des Entscheids im Weg stehen könnte[16].

Nicht weiter führt BGE 141 III 596, da sich das Bundesgericht darin nicht zum Verzicht auf kantonale Rechtsmittel geäussert zu haben scheint. Bisher war man laut dem Kommentator dieses Bundesgerichtsentscheids davon ausgegangen, dass die Parteien in Bereichen, die der Parteidisposition unterstehen, auch schon vor Erlass des Entscheids auf Rechtsmittel verzichten können, ausser auf Rügen betreffend die Verletzung verfassungsmässiger Rechte und betreffend Revisionsgründe, weil dies einer unzulässigen Beschränkung der Persönlichkeit gemäss Art. 27 Abs. 2 ZGB gleichkäme. Grundsätzlich müsse der Dispositionsgrundsatz auch auf den Rechtsmittelverzicht Anwendung finden[17].

3.2.

Gemäss der Lehre ist ein vorgängiger Rechtsmittelverzicht vor Erlass des begründeten Entscheids im Verfahren der Scheidung auf gemeinsames Begehren unzulässig[18]; denn vor der Eröffnung eines begründeten Entscheids ist ein Verzicht nur zulässig, soweit die Dispositionsmaxime gilt, nicht aber bei Geltung der Offizialmaxime, das heisst, wenn die streitigen Rechte der Parteidisposition entzogen sind[19]. Diesfalls ist der Rechtsmittelverzicht unbeachtlich[20]. Dies deshalb, weil ohne genaue Kenntnisse der Erwägungen des Gerichts die betroffene Partei nicht in der Lage ist, die Tragweite ihres Verzichts genau zu beurteilen[21]. Auf die Berufung (Art. 308 ff. ZPO) kann somit im Voraus[22] (nur) verzichtet werden, soweit verfügbare Rechte im Streit liegen[23]. Nach Eröffnung des Entscheids dagegen ist ein Verzicht generell, das heisst auch im Geltungsbereich der Offizialmaxime, zulässig. Der Verzicht kann auch für den Fall erklärt werden, dass der Entscheid ohne schriftliche Begründung nach Art. 239 Abs. 1 ZPO eröffnet wurde[24].

Seiler[25] sodann schreibt: "Im Geltungsbereich der Dispositionsmaxime können die Parteien über den Streitgegenstand frei verfügen. Diesfalls ist ein bindender Verzicht vor Eröffnung des Entscheids oder Urteils möglich. " Daran wird gemäss Seiler auch unter der Herrschaft der ZPO in der neueren kantonalen Rechtsprechung festgehalten[26]. Ist den Parteien demgegenüber die Verfügung über das Streitobjekt insofern entzogen, als eine Klage nicht vorbehaltlos anerkannt werden kann, was im Bereich der Offizialmaxime der Fall ist, so ist ein vorgängiger Verzicht auf Rechtsmittel grundsätzlich unzulässig[27]. Ein Verzicht setzt voraus, dass die Parteien in voller Sachkenntnis gehandelt haben, also die genauen Erwägungen des Gerichts kennen, andernfalls sie nicht in der Lage sind, die Tragweite der Entscheidung zu beurteilen[28]. Als problematisch wird der Verzicht auf die Berufung bei der Scheidung auf gemeinsames Begehren von Seiler betrachtet. Zu Recht wird gemäss Seiler geltend gemacht, dass Willensmängel im Zeitpunkt der Urteilsfällung für die irrende Partei oft noch gar nicht erkennbar seien und eine Geltendmachung deshalb subjektiv unmöglich sei. Der Sache nach handle es sich daher um dieselbe Situation wie bei der Revision. Ein Verzicht auf die Geltendmachung von Revisionsgründen sei indes weder vor noch nach Erlass des Urteils möglich[29]. Somit gelange man in jedem Fall zum Ergebnis, dass auf eine Anfechtung der Scheidung auf gemeinsames Begehren wegen Willensmängel mit Berufung (auch nach Erlass des Urteils) nicht verbindlich verzichtet werden könne. Es sei daher davon auszugehen, dass hier ein (durchsetzbarer) Rechtsmittelverzicht lediglich durch unbenutztes Verstreichenlassen der Rechtsmittelfrist erfolgen könne[30].

3.3.

Ein vergleichbarer Fall wie hier liegt dem Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 zugrunde. Hier wie dort[31] wurde das Urteil nicht mündlich eröffnet, sondern den Parteien im Nachhinein im Dispositiv postalisch zugestellt. Hier schlossen die Parteien die Scheidungskonvention ab, und die Vorinstanz genehmigte diese mit schriftlich eröffnetem Entscheid. Hier wie dort[32] verzichteten beide Parteien im Voraus auf Begründung und Rechtsmittel gegen das Scheidungsurteil. Auch dort brachte die Ehefrau und Berufungsbeklagte vor, die Vorinstanz habe die Scheidungsvereinbarung dem Ehemann und Berufungskläger erklärt; dieser habe sie verstanden und unterzeichnet[33]. Das Zürcher Obergericht fragte sich sodann, ob das Scheidungsurteil korrekt eröffnet worden sei, und die Parteien im Voraus auf Begründung und Rechtsmittel verbindlich verzichteten beziehungsweise verzichten konnten[34]. Das Obergericht erwog, ein Vorausverzicht sei nur beschränkt möglich. Vor der Eröffnung eines Entscheids könne auf Begründung und Rechtsmittel verzichtet werden, wenn die Parteien über den Streitgegenstand frei verfügen könnten. Ein trotz eines solchen Verzichts erhobenes Rechtsmittel sei unzulässig und durch Nichteintretensentscheid zu erledigen, es sei denn, der Verzicht sei nach Massgabe des OR ungültig, weil die verzichtende Partei beispielsweise einem Willensmangel (Art. 23 ff. OR) erlegen sei. Im Bereich der Offizialmaxime sei ein Vorausverzicht auf ordentliche Rechtsmittel unbeachtlich. Die Offizialmaxime gelte in Scheidungsverfahren gemäss Art. 274 ff. ZPO bezüglich des gemeinsamen Scheidungsbegehrens (Art. 288 Abs. 1 ZPO) sowie zufolge Genehmigungsbedürftigkeit auch bezüglich der Parteivereinbarungen über die Nebenfolgen der Scheidung (Art. 279 Abs. 1 und 2 ZPO). Die Parteien könnten über den Bestand der Ehe nicht frei verfügen und eine Scheidungsklage nicht anerkennen. Das gelte auch bei der Scheidung auf gemeinsames Begehren. Entsprechend bestimme Art. 288 Abs. 1 ZPO, dass das Gericht die Scheidung auf gemeinsames Begehren ausspreche, sofern die Voraussetzungen dafür erfüllt seien. Die Parteien könnten demnach vor mündlicher oder schriftlicher Eröffnung des Scheidungsurteils nicht verbindlich auf Begründung und Rechtsmittel gegen das Urteil verzichten[35].

4.

4.1.

Die Parteien reichten das Begehren auf Scheidung der Ehe und Regelung der Nebenfolgen bei der Vorinstanz ein, wobei der Berufungskläger erklärte, er benötige einen Dolmetscher. Die Vor­instanz lud die Parteien zur Anhörung (zuerst je allein, dann gemeinsam) vor und setzte eine Dolmetscherin ein. Auch sie wurde zur Anhörung eingeladen. Zwei Wochen vor der Anhörung sagte die Dolmetscherin den Termin wegen Ferien ab. Die Vorinstanz fand für den Termin so kurzfristig keinen anderen Dolmetscher. Auf telefonische Anfrage teilte der Berufungskläger allerdings mit, dass es auf Hochdeutsch gehen sollte. Er werde sich melden, wenn er gewisse Sachen nicht verstehen sollte. Anlässlich der Verhandlung wurden die Parteien wie ausgeführt zunächst zum Scheidungspunkt sowie den Nebenfolgen angehört. Anschliessend unterzeichneten sie die (vom Gericht ausgearbeitete) Vereinbarung, worin sie auf eine Begründung des Entscheids und die Ergreifung eines Rechtsmittels verzichteten. Schliesslich schied die Einzelrichterin des Bezirksgerichts die Ehe der Parteien, beliess die elterliche Sorge über die Kinder gemeinsam bei beiden Parteien, ordnete an, dass die Kinder den Wohnsitz bei der Mutter haben, genehmigte die Vereinbarung der Parteien über die Scheidungsfolgen, wies die Vorsorgeeinrichtung des Ehemanns zur Überweisung eines bestimmten Betrags auf das Freizügigkeitskonto der Ehefrau an und regelte die Kosten- und Entschädigungsfolgen.

4.2.

Da sich der Entscheid auf das gemeinsame Scheidungsbegehren bezieht, über das die Parteien nicht frei verfügen können, und auch die Vereinbarung über die Nebenfolgen der Scheidung gerichtlich zu genehmigen ist, betrifft das Urteil Offizialpunkte. Ein Vorausverzicht ist in diesem Fall, wie vorne unter Erwägung 3 ausgeführt, nicht zulässig. Der von den Parteien abgegebene Verzicht auf Begründung und Rechtsmittel ist deshalb unbeachtlich.

5.

5.1.

5.1.1.

Das (erstinstanzliche) Gericht kann seinen Entscheid den Parteien ohne schriftliche Begründung durch Zustellung des Dispositivs eröffnen[36]. Eine schriftliche Begründung ist nachzuliefern, wenn eine Partei dies innert zehn Tagen seit der Eröffnung des Entscheids verlangt. Wird keine Begründung verlangt, so gilt dies als Verzicht auf die Anfechtung des Entscheids mit Berufung oder Beschwerde[37]. Will eine Partei den erstinstanzlichen Entscheid mit Berufung (Art. 308 ff. ZPO) anfechten, so hat sie zwingend innert Frist eine schriftliche Begründung zu verlangen[38].

5.1.2.

Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben[39], beziehungsweise, alle am Verfahren beteiligten Personen haben nach Treu und Glauben zu handeln[40]. Aus diesem allgemeinen Grundsatz leitet sich insbesondere das in Art. 9 in fine BV verankerte Grundrecht des Einzelnen auf Schutz von Treu und Glauben in seinen Beziehungen zum Staat ab. Die Parteien dürfen dementsprechend nicht durch eine unklare oder widersprüchliche gesetzliche Regelung der Rechtsmittel beeinträchtigt werden[41]. Ein rechtsunkundiger Prozessbeteiligter kann sich auf eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung verlassen, wenn er nicht anwaltlich vertreten ist und über keine besondere Erfahrung, zum Beispiel aus früheren Verfahren, verfügt[42]. Das gilt telquel auch mit Bezug auf fehlende oder unrichtige Belehrungen nach Art. 239 Abs. 2 ZPO[43].

5.2.

Der Berufungskläger hat keine schriftliche Begründung des ihm im Dispositiv eröffneten Entscheids verlangt. Allerdings fehlte im Entscheid nicht nur die Belehrung darüber, dass die Parteien innert zehn Tagen seit der Eröffnung des Entscheids eine Begründung verlangen können, sondern die Parteien wurden unter "Rechtsmittel" gar darauf hingewiesen, dass sie auf eine Begründung des Entscheids verzichtet hätten, womit der Entscheid mit seiner Zustellung in Rechtskraft erwachse. Dementsprechend ist dem Grundsatz von Treu und Glauben folgend das Revisionsgesuch des Berufungsklägers als Gesuch um Begründung des neun Tage zuvor ergangenen Entscheids entgegenzunehmen. Dabei ist die zehntägige Frist, innert welcher die Begründung zu verlangen ist, offensichtlich gewahrt. Demgegenüber würde die über einen Monat nach Entscheiddatum erhobene Berufung die zehntägige Frist nicht wahren. Ob die Berufung gleichwohl als fristwahrendes Ersuchen um Begründung entgegenzunehmen wäre, kann angesichts des Revisionsgesuchs offenbleiben.

6.

6.1.

Die Berufungsfrist beginnt gemäss Art. 311 Abs. 1 ZPO mit der Zustellung des begründeten Entscheids beziehungsweise seit der nachträglichen Zustellung der (schriftlichen) Entscheidbegründung (Art. 239 ZPO) zu laufen; und nicht vorher. Dies, weil ein Berufungsverfahren ohne Kenntnis der Entscheidgründe sowohl den Parteien als auch der Berufungsinstanz nicht zuzumuten ist und zudem gegen Art. 9 BV verstiesse[44]. Der Entscheid kann somit frühestens nach Zustellung der schriftlichen Begründung an die Parteien angefochten werden. Wird direkt Berufung schriftlich erhoben (so hier), statt vorerst eine schriftliche Begründung zu verlangen, so gilt dies als Antrag auf schriftliche Begründung (wobei diese Bedeutung hier schon dem Revisionsgesuch zukommt). Analog der Einreichung eines Rechtsmittels bei der unteren Instanz statt der Rechtsmittelinstanz ist hierbei die Rechtsmittelinstanz verpflichtet, die Eingabe an die untere Instanz weiterzuleiten. Hierbei ist der Rechtsmittelkläger nochmals darauf hinzuweisen, dass er das Rechtsmittel noch nicht gültig eingereicht hat[45].

6.2.

Dementsprechend ist dem Anspruch des Berufungsklägers – und ebenso der Berufungsbeklagten – auf Begründung und Rechtsmittel nachträglich Nachachtung zu verschaffen. Dafür ist das Verfahren zur Begründung des Scheidungsurteils, einschliesslich Ansetzung der Berufungsfrist durch die Vorinstanz an diese zurückzuweisen. Eine materielle Prüfung der Berufung fällt nach dem Gesagten (zur Zeit) ausser Betracht, weil die Berufungsfrist gegen das erstinstanzliche Urteil noch gar nicht ausgelöst wurde[46].

7.

7.1.

Zusammenfassend ist auf die Berufung nicht einzutreten, da bislang noch gar kein begründeter erstinstanzlicher Endentscheid vorliegt; und es ist das Verfahren zur Begründung des Entscheids an die Vorinstanz zurückzuweisen.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 5. März 2024, ZBR.2024.6


[1]    Art. 288 Abs. 1 ZPO

[2]    Art. 289 ZPO

[3]    Art. 21 OR

[4]    Art. 28 OR

[5]    Art. 29 f. OR

[6]    Art. 24 OR

[7]    Urteile des Bundesgerichts 5A_721/2012 vom 17. Januar 2013 E. 3.2.1; 5A_493/2011 vom 12. Dezember 2011 E. 1

[8]    Fankhauser, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 289 N. 7; Bähler, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Art. 289 N. 5; Spycher, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 289 ZPO N. 7; Bornhauser, Rechtsmittel in konventionsbasierten Scheidungsverfahren, in: FamPra.ch 2013 S. 120 f.

[9]   Art. 279 Abs. 1 ZPO

[10]  Art. 280 Abs. 1 ZPO

[11]  RBOG 2015 Nr. 14; Bähler, Art. 289 ZPO N. 6; Gasser/Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 2.A., Art. 289 N. 3

[12]  Art. 238 lit. g ZPO (i.V.m. Art. 219 und 288 Abs. 1 ZPO)

[13]  Art. 239 Abs. 2 ZPO

[14]  Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege, in Kraft bis 31. Dezember 2006, BS 3 531

[15]  Urteil des Bundesgerichts 5A_811/2014 vom 29. Januar 2015 E. 3

[16]  Urteil des Bundesgerichts 5A_811/2014 vom 29. Januar 2015 E. 5.1

[17]  Leuenberger/Walther/Berger, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Zivilprozessrecht im Jahr 2015, in: ZBJV 2017 S. 272 f.

[18]  Fankhauser, Das Scheidungsverfahren nach neuer ZPO, in: FamPra.ch 2010 S. 783; Fankhauser/Bleichenbauer, in: FamKommentar Scheidung (Hrsg.: Fankhauser), 4.A., Art. 289 ZPO N. 11

[19]  Spühler, Basler Kommentar, 3.A., Vor Art. 308-334 ZPO N. 15; Blickenstorfer, in: Schweizerische Zivilprozessordnung (Hrsg.: Brunner/Gasser/Schwander), 2.A., Vor Art. 308-334 N. 87; Killias, Berner Kommentar, Bern 2012, Art. 238 ZPO N. 23 und 24; Reetz, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Vorbemerkungen zu den Art. 308-318 N. 28

[20]  Spühler, Vor Art. 308-334 ZPO N. 15

[21]  Staehelin, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 238 N. 32

[22]  Das heisst vor Vorliegen des begründeten Entscheids

[23]  Killias, Art. 238 ZPO N. 24

[24]  Killias, Art. 238 ZPO N. 23

[25]  Seiler, Die Berufung nach ZPO, Zürich/Basel/Genf 2013, N. 607 ff.

[26]  Seiler, N. 607

[27]  Seiler, N. 607 mit zahlreichen Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre in Fn. 1879

[28]  Seiler, N. 608

[29]  Seiler, N. 611

[30]  Seiler, N. 612

[31]  Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 E. I.1.

[32]  Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 E. I.1.

[33]  Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 E. II.3.2.

[34]  Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 E. II.4.

[35]  Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 E. II. 5

[36]  Art. 239 Abs. 1 lit. b ZPO

[37]  Art. 239 Abs. 2 ZPO

[38]  Killias, Art. 239 ZPO N. 2

[39]  Art. 5 Abs. 3 BV

[40]  Art. 52 ZPO

[41]  Urteil des Bundesgerichts 4A_573/2021 vom 17. Mai 2022 E. 3

[42]  BGE 135 III 374 E. 1.2.2.2; Urteil des Bundesgerichts 4A_573/2021 vom 17. Mai 2022 E. 3

[43]  Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau ZSU.2022.161 vom 21. September 2022 E. 1.1

[44]  Reetz/Theiler, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger), 3.A., Art. 311 N. 16

[45]  Staehelin, Art. 239 ZPO N. 31

[46]  Vgl. Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich LC210021 vom 6. Oktober 2021 E. 6 (S. 8 f.)


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