RBOG 2024 Nr. 29
Anfechtbarkeit eines Entscheids des Bezirksgerichts an der Hauptverhandlung, die Anklageschrift nicht an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen
Art. 65 Abs. 1 StPO Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO Art. 329 Abs. 2 StPO Art. 339 Abs. 1 StPO
Zusammenfassung des Sachverhalts:
Der Privatkläger beantragte zu Beginn der Hauptverhandlung im Rahmen von Vorfragen, die mangelhafte Anklageschrift sei zur Ergänzung und Verbesserung an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Nach einer Beratung entschied das Bezirksgericht gleichentags, alle Rückweisungsanträge würden abgewiesen.
Aus den Erwägungen:
[…]
2.
Vorab stellt sich die Frage, ob der an der Hauptverhandlung gefällte Entscheid, mit dem die Vorinstanz die Rückweisung der Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft ablehnte, anfechtbar ist.
[…]
5.
Verfahrensleitende Anordnungen der Gerichte können laut Art. 65 Abs. 1 StPO nur mit dem Endentscheid angefochten werden. Hat die Verfahrensleitung eines Kollegialgerichts vor der Hauptverhandlung verfahrensleitende Anordnungen getroffen, so kann sie das Gericht nach Art. 65 Abs. 2 StPO von Amtes wegen oder auf Antrag ändern oder aufheben. Die StPO-Beschwerde ist gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO zulässig gegen die Verfügungen und Beschlüsse sowie die Verfahrenshandlungen der erstinstanzlichen Gerichte; ausgenommen sind verfahrensleitende Entscheide.
5.1.
Mit Beschluss wies die Vorinstanz den Antrag des beschwerdeführenden Privatklägers auf Rückweisung der Anklage ab. Dabei handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts um einen verfahrensleitenden Entscheid im Sinn von Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO[1]. Nach der Praxis des Bundesgerichts ist die StPO-Beschwerde dagegen nur zulässig, soweit der rechtsuchenden Partei ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht[2], der auch im Rahmen eines Rechtsmittels gegen den Endentscheid – das Strafurteil der Vorinstanz – nicht mehr behoben werden könnte[3]. Der Begriff des nicht wiedergutzumachenden Nachteils richtet sich diesbezüglich (analog) nach der Praxis zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG[4]. Art. 393 Abs. 1 lit. b StPO ist insofern in Zusammenhang mit Art. 65 Abs. 1 StPO zu lesen, wonach verfahrensleitende Anordnungen der Gerichte grundsätzlich nur mit dem Endentscheid angefochten werden können[5]. Verfahrensleitende Beschlüsse betreffend die Rückweisung der Anklage zur weiteren Untersuchung oder Sistierung des Verfahrens begründen in der Regel keinen solchen Rechtsnachteil. Ausnahmen können vorliegen, wenn die rechtsuchende Partei das Risiko einer Verjährung der Strafverfolgung oder eine Verfahrensverzögerung geltend macht, die einer formellen Rechtsverweigerung gleichkäme. Kein nicht wiedergutzumachender Rechtsnachteil droht nach der Praxis des Bundesgerichts in der Regel, wenn vor der Hauptverhandlung Anträge auf Übersetzung von Strafakten (oder Änderung der Verfahrenssprache) abgewiesen werden[6]. Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens genügt ebenfalls nicht[7].
[…]
5.3.
Gemäss Art. 339 Abs. 1 StPO eröffnet die Verfahrensleitung die Hauptverhandlung gleich bei Verhandlungsbeginn, insbesondere vor der Behandlung von Vorfragen. Die Eröffnung erfolgt in Form einer mündlichen Erklärung der Verfahrensleitung, dass die Hauptverhandlung jetzt beginnt. Dieser Verfahrensschritt muss für die anwesenden Verfahrensbeteiligten sowie die übrigen Mitglieder des Gerichts zweifelsfrei erkennbar sein und ist gemäss Art. 77 lit. a und f StPO als mündliche Verfahrenshandlung zu protokollieren. Allfällige vorausgehende Äusserungen der Verfahrensleitung betreffend den Zutritt zur Verhandlung, die Sitzordnung im Gerichtssaal, die zeitliche Verzögerung des Sitzungsbeginns und ähnliche organisatorische oder sitzungspolizeiliche Anweisungen gelten nicht als Eröffnung der Hauptverhandlung. Die Eröffnung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ist nicht mit dem Beginn der materiellen Behandlung der Anklage gleichzusetzen. Diese beginnt erst nach der Behandlung allfälliger Vorfragen[8]. Ebenso wenig handelt es sich um den Zeitpunkt, ab dem die Anklageschrift gemäss Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO nicht mehr zurückgezogen werden kann. Ab Eröffnung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bleibt das Verfahren stets beim Gericht hängig, selbst wenn dieses die Akten oder die Beweise durch die Staatsanwaltschaft ergänzen lässt[9].
5.4.
Die Prüfung der Anklage obliegt allein der Verfahrensleitung. Weder das Gesetz noch die Rechtsprechung verlangen einen formellen gerichtlichen Zulassungsentscheid. Einzig eine Verfahrenssistierung oder Rückweisung der Anklage im Sinn von Art. 329 Abs. 2 StPO setzt einen Kollegialentscheid des erstinstanzlichen Sachgerichts voraus[10]. Die erstinstanzliche Verfahrensleitung war somit befugt, vor der Hauptverhandlung allein über die Anträge des Beschwerdeführers betreffend die Rückweisung der Anklageschrift zu entscheiden. Dies gilt namentlich hinsichtlich des Verzichts auf eine Rückweisung der Anklage an die Staatsanwaltschaft.
6.
6.1.
Der verfahrensleitende Richter der Vorinstanz begrüsste die Anwesenden und erklärte "die Hauptverhandlung für eröffnet". Anschliessend fragte er die Parteien, ob es aus ihrer Sicht Anlass zur Beurteilung von Vorfragen gebe. Daraufhin stellte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers den Antrag, die Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen, und er begründete diesen Antrag ausführlich. Nach den Stellungnahmen der Parteien zog sich die Vorinstanz zur Beratung zurück und eröffnete anschliessend ihren Beschluss, die Anträge auf Rückweisung der Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft abzuweisen. Dieser Entscheid erging somit eindeutig nach Eröffnung der Hauptverhandlung. Die Vorinstanz befasste sich lehrbuchmässig nach der Eröffnung der Hauptverhandlung mit den Vorfragen, entschied darüber und schritt anschliessend zur materiellen Behandlung der Anklage. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers erging somit der angefochtene Entscheid nicht "vor der eigentlichen Hauptverhandlung". Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, was mit der vom Beschwerdeführer propagierten Auffassung gewonnen wäre, bedarf es doch auch nach seiner Auffassung für eine zulässige Beschwerde gegen solche Entscheide eines nicht wiedergutzumachenden Nachteils rechtlicher Natur.
[…]
6.2.2.
Die Privatklägerschaft kann einen Entscheid laut Art. 382 Abs. 2 StPO hinsichtlich der ausgesprochenen Sanktion nicht anfechten. Sie hat im Strafverfahren indes ebenfalls gewisse Rechte. Sie kann sich als Strafklägerin konstituieren und die Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person verlangen (Strafklage gemäss Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO). In diesem Rahmen kann sie sich auch zur rechtlichen Würdigung der Tat äussern und einen zu Unrecht erfolgten erstinstanzlichen Freispruch oder eine ihres Erachtens zu milde rechtliche Würdigung durch das erstinstanzliche Gericht unabhängig von allfälligen Zivilforderungen mittels Berufung anfechten[11]. Die Privatklägerschaft ist ferner nicht zur Unparteilichkeit verpflichtet. Sie darf ihren Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person[12] im Gerichtsverfahren bei einer ihrer Ansicht nach ungenügenden Anklage auch mittels eines Antrags auf Ergänzung der Anklage im Sinn einer qualifizierten Tatbegehung oder einer härteren rechtlichen Qualifikation durchsetzen. Solche Anträge der Privatklägerschaft auf Ergänzung der Anklage hat das Sachgericht zu behandeln. Darüber, ob einem entsprechenden Antrag der Privatklägerschaft stattzugeben und der Staatsanwaltschaft entsprechend die Möglichkeit zur Anklageänderung oder -ergänzung einzuräumen ist, hat das Gericht nach pflichtgemässem Ermessen sowie in Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro duriore" zu befinden[13].
6.2.3.
Auch wenn die Privatklägerschaft somit die Ergänzung der Anklage beantragen kann, ist der diesen Antrag abweisende Entscheid des erstinstanzlichen Gerichts nur anfechtbar, wenn der Privatklägerschaft ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht. Hier ist weder ersichtlich noch konkretisiert der Beschwerdeführer, worin bei einer Nichtrückweisung der Anklageschrift "irreversible" rechtliche Nachteile für den Beschwerdeführer bestehen sollen, zumal der Beschwerdeführer mit der Berufung gegen den erstinstanzlichen Entscheid die Rückweisung der Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft erneut beantragen kann. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, weshalb ihm der Verlust von Staatshaftungsansprüchen und generell von Zivilforderungen droht, wenn die Anklageschrift nicht (jetzt) an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen, sondern das Verfahren vor der Vorinstanz auf der Grundlage der Anklageschrift fortgeführt wird. Der angefochtene Beschluss tangiert – wie die Staatsanwaltschaft zu Recht feststellte – weder zivilrechtliche Ansprüche noch allfällige Staatshaftungsansprüche. Der Beschwerdeführer begründete nicht, dass und inwiefern er in diesem Zusammenhang irgendwelcher Rechte verlustig gehen könnte. Ebenso legte er nicht dar, weshalb er bei der Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens ohne Rückweisung der Anklageschrift nicht in der Lage sein sollte, seine Ansprüche – welcher Art auch immer – durchzusetzen. Auch wenn der Beschwerdegegner A. im Anklagesachverhalt Ziff. 2.5 nicht angeklagt ist, führt dies für ein zivil- oder verwaltungsrechtliches Verfahren (betreffend Staatshaftung) nicht zu einem nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Art. Was der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang mit dem Verweis auf den Grundsatz "ne bis in idem" (Verbot der doppelten Bestrafung oder Strafverfolgung) meinte, beziehungsweise inwiefern dem Beschwerdeführer unwiederbringlich die Haftungsgrundlage und damit die Möglichkeit abgeschnitten werde, seine Zivilforderungen in einem späteren Verantwortlichkeitsverfahren geltend zu machen, erschliesst sich nicht[14]. Dass der Verlust von Ansprüchen mit der Verjährung zusammenhängen könnte, machte der Beschwerdeführer nicht geltend.
6.2.4.
In ihrem Strafurteil wird sich die Vorinstanz mit den Argumenten des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen haben, mit denen er die Rückweisung der Anklageschrift zu Beginn der Hauptverhandlung begründet hatte; ebenso wird die Vorinstanz zu begründen haben, weshalb sie den Antrag auf Rückweisung abwies. Alsdann wird die Vorinstanz gestützt auf die ihr vorliegende Anklageschrift ihr Urteil fällen. Der Beschwerdeführer wird Gelegenheit haben, das erstinstanzliche Strafurteil mit Berufung anzufechten. Dabei kann er Einwände gegen die Anklageschrift erheben und geltend machen, ein Beschwerdegegner oder mehrere Beschwerdegegner hätten wegen zusätzlicher Tatbestände und/oder Sachverhalte verurteilt werden müssen. Inwiefern ihm dadurch, dass er diese Rügen erst in einem allfälligen Berufungsverfahren erheben können wird, ein nicht wiedergutzumachender Nachteil rechtlicher Natur droht, ist nicht ersichtlich, und der Beschwerdeführer legte dies auch nicht nachvollziehbar dar. Käme das Berufungsgericht dereinst zum Schluss, die Anklageschrift sei unvollständig und müsse ergänzt werden, und wiese sie diese deshalb unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils zur Ergänzung an die Staatsanwaltschaft zurück[15], führte dieses Prozedere lediglich zu einer zeitlichen Verzögerung. Dass dies dem Beschwerdeführer zum Nachteil rechtlicher Natur gereichte (etwa durch einen Beweisverlust), ist nicht dargetan. Auch der vom Beschwerdeführer erwähnte "Grundsatz der Doppelinstanzlichkeit" wäre nicht betroffen, da diesfalls das Bezirksgericht gestützt auf die neue und erweiterte Anklageschrift einen neuen Entscheid zu fällen hätte, der dann wiederum mit Berufung anfechtbar wäre.
6.3.
Somit ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
[…]
Obergericht, 2. Abteilung, 18. März 2024, SW.2024.14
[1] Urteil des Bundesgerichts 1B_363/2021 vom 5. April 2022 E. 2.2
[2] Ein bloss tatsächlicher Nachteil genügt nicht.
[3] Urteil des Bundesgerichts 1B_171/2017 vom 21. August 2017 E. 2.4
[4] Vgl. Guidon, Basler Kommentar, 3.A., Art. 393 StPO N. 13
[5] Urteile des Bundesgerichts 1B_334/2021 vom 7. April 2022 E. 2.4 mit Verweis auf BGE 143 IV 175 E. 2.3; 1B_363/2021 vom 5. April 2022 E. 2.2; 1B_171/2017 vom 21. August 2017 E. 2.3 f.; vgl. auch Guidon, Art. 393 StPO N. 13
[6] Urteil des Bundesgerichts 1B_334/2021 vom 7. April 2022 E. 2.5
[7] Urteil des Bundesgerichts 1B_363/2021 vom 5. April 2022 E. 2.2; BGE 147 III 159 E. 4.1. Die von Keller, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers), 3.A., Art. 393 N. 28, erwähnten Beispiele betreffen beide die angeordnete Rückweisung der Anklage. Das Gleiche gilt für Guidon, Art. 393 StPO N. 12.
[8] Art. 340 Abs. 1 lit. a und b StPO
[9] Schwendener, Basler Kommentar, 3.A., Art. 339 StPO N. 1a ff.
[10] Urteil des Bundesgerichts 7B_532/2023 vom 11. Dezember 2023 E. 2.4 und 3.2
[11] BGE 148 IV 124 E. 2.6.4
[12] Vgl. Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO
[13] BGE 148 IV 124 E. 2.6.7
[14] Vgl. Art. 53 OR
[15] Illustrativ in diesem Zusammenhang: Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich SB230113 vom 25. Januar 2024