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RBOG 2024 Nr. 19

Keine gerichtliche Frage- beziehungsweise Hinweispflicht auf einen ungenügenden Tatsachenvortrag im vereinfachten Verfahren mit einem doppelten Schriftenwechsel und einem nachfolgenden Verzicht auf eine Hauptverhandlung

Art. 247 Abs. 1 ZPO Art. 56 ZPO Art. 246 Abs. 2 ZPO Art. 243 Abs. 1 ZPO


Zusammenfassung des Sachverhalts:

Das Bezirksgericht führte einen Kollokationsprozess im vereinfachten Verfahren durch. Es fand ein doppelter Schriftenwechsel statt, und die Parteien verzichteten in der Folge auf die Durchführung einer Hauptverhandlung. Im Berufungsverfahren ist strittig, ob das Bezirksgericht seiner gerichtlichen Fragepflicht hinreichend nachgekommen ist.

Aus den Erwägungen:

[…]

4.2.

Gemäss der Rechtsprechung muss eine Tatsachenbehauptung nicht alle Einzelheiten enthalten; es genügt, wenn die Tatsache in einer den Gewohnheiten des Lebens entsprechenden Weise in ihren wesentlichen Zügen oder Umrissen behauptet worden ist. Immerhin muss die Tatsachenbehauptung so konkret formuliert sein, dass ein substantiiertes Bestreiten möglich ist oder der Gegenbeweis angetreten werden kann. Bei der Festlegung der Substantiierungsanforderungen ist zwingend die dienende Funktion des Zivilprozessrechts zu beachten. Das Verfahrensrecht ist darauf ausgerichtet, dem materiellen Recht zum Durchbruch zu verhelfen[1].

4.3.

Das vereinfachte (Zivilprozess-)Verfahren gilt gemäss Art. 243 Abs. 1 ZPO für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von Fr. 30'000.00. Grundsätzlich handelt es sich um ein mündliches Verfahren[2]. Das Gericht kann jedoch nach Art. 246 Abs. 2 ZPO einen Schriftenwechsel anordnen und eine Instruktionsverhandlung durchführen, wenn es die Verhältnisse erfordern. Das Gericht wirkt nach Art. 247 Abs. 1 ZPO durch entsprechende Fragen darauf hin, dass die Parteien ungenügende Angaben zum Sachverhalt ergänzen und die Beweismittel bezeichnen. Es gilt damit eine verstärkte gerichtliche Fragepflicht. Während in den Fällen von Art. 247 Abs. 2 ZPO der eingeschränkte Untersuchungsgrundsatz gilt[3], hat das Gericht sich mit Fragen und Hinweisen zurückzuhalten, wenn beide Parteien anwaltlich vertreten sind[4].

[…]

5.6.3.

Entgegen den Vorbringen des Berufungsklägers stellte die Vorinstanz nicht überrissene Anforderungen an den Tatsachenvortrag. Der Verweis auf das vereinfachte Verfahren und die dort erhöhte gerichtliche Fragepflicht ist nicht zielführend. Bei Rechtsanwälten ist auch im vereinfachten Verfahren die gerichtliche Fragepflicht eingeschränkt. Zudem führte die Vorinstanz einen doppelten Schriftenwechsel durch, was im vereinfachten Verfahren zwar ungewöhnlich, aber bei komplexen Streitigkeiten (mit vertretenen Parteien) möglich ist[5] und hier angemessen erscheint. Der Berufungskläger opponierte dagegen auch nicht. Schliesslich – und das ist wesentlich – verzichteten beide Parteien nach dem zweiten Schriftenwechsel vorbehältlich einer Beweisabnahme auf eine Hauptverhandlung.

Der Berufungskläger hat es sich also selbst zuzuschreiben, dass unabhängig von der anwaltlichen Vertretung die gerichtliche Fragepflicht – soweit nach einem doppelten Schriftenwechsel überhaupt noch möglich – im Rahmen des vereinfachten Verfahrens mangels Hauptverhandlung gar nicht zur Anwendung kommen konnte. Daran ändern auch die Vorbringen in der Berufung nichts, die Vorinstanz habe Art. 247 Abs. 1 ZPO und Art. 56 ZPO verletzt[6], weil sie auf einen ungenügenden Tatsachenvortrag hätte hinweisen müssen. Das vereinfachte Verfahren vor Vorinstanz mit einem doppelten Schriftenwechsel und einem nachfolgenden Verzicht auf eine Hauptverhandlung schliesst die Anwendung von Art. 247 Abs. 1 ZPO, also die gerichtliche Frage- beziehungsweise Hinweispflicht auf einen ungenügenden Tatsachenvortrag geradezu aus. Der vorliegende Verfahrensablauf ist mehr mit dem ordentlichen Verfahren nach Art. 219 ff. ZPO vergleichbar. Dort ist – abgesehen von Art. 56 ZPO – keine verstärkte Fragepflicht normiert, und die Parteien haben nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 229 ZPO (lediglich) zweimal die Möglichkeit, sich zu äussern, was auch für das vereinfachte Verfahren gilt[7]. Demnach könnte hier auch die (normale) gerichtliche Fragepflicht nach Art. 56 ZPO unabhängig von ihrer Tragweite bei vertretenen Parteien nicht zum Tragen kommen, weil die Parteien (nach einem doppelten Schriftenwechsel) auf eine Hauptverhandlung verzichteten.

5.6.4.

Die Vorinstanz teilte den Parteien mit, beide hätten auf eine Hauptverhandlung verzichtet und würden zu gegebener Zeit über die weiteren Verfahrensschritte des Gerichts informiert. Entgegen der Auffassung des Berufungsklägers in der Berufungsschrift kann daraus nicht auf ein Inaussichtstellen eines bestimmten Verfahrensschritts, etwa einer Instruktionsverhandlung, geschlossen werden.

5.6.5.

Der verfahrensrechtliche Einwand des Berufungsklägers betreffend die Waffengleichheit ist zutreffend, wonach er als Kollokationskläger nach Art. 250 Abs. 1 SchKG innert 20 Tagen die Klage einreichen müsse, während die Berufungsbeklagte über drei Monate Zeit gehabt habe, die Klageantwort einzureichen. Die nicht erstreckbare Klagefrist nach Art. 250 SchKG ist eine gesetzliche Frist, während die Fristen zur Stellungnahme nach Art. 245 Abs. 2 ZPO und zur Klageantwort nach Art. 222 Abs. 1 ZPO nicht gesetzlich definiert und damit erstreckbar sind. Damit liegt ein qualitativer Unterschied vor, der zu ungleich langen Fristen führen kann. Das ist gesetzlich gewollt und im vorliegenden Ausmass hinzunehmen. Zu beachten ist, dass die Vorinstanz auch dem Berufungskläger im Rahmen der Replik zwei Fristerstreckungen von rund dreieinhalb Monaten (ohne den zur Anwendung gekommenen Fristenstillstand vom 15. Juli bis 15. August) gewährte. Dort, wo Ermessen bestand, übte die Vorinstanz dieses mithin zugunsten beider Parteien aus. Eine Ungleichbehandlung ist daher nicht auszumachen.

[…]

Obergericht, 2. Abteilung, 10. September 2024, ZBR.2022.27

Eine dagegen erhobene Beschwerde ist beim Bundesgericht hängig (5D_7/2025).


[1]    RBOG 2021 Nr. 7 E. 4a.bb mit Verweis auf BGE 136 III 328, das Urteil des Bundesgerichts 4A_412/2019 vom 27. April 2020 E. 4.1 sowie BGE 144 III 522 ff.

[2]    Vgl. Art. 244 Abs. 2. i.V.m. Art. 245 Abs. 1 ZPO

[3]    Das Gericht stellt in bestimmten, hier nicht gegebenen Angelegenheiten den Sachverhalt von Amtes wegen fest.

[4]    Sutter-Somm/Seiler, in: Handkommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (Hrsg.: Sutter-Somm/Seiler), Zürich/Basel/Genf 2021, Art. 247 N. 6 mit dem Verweis auf das Urteil des Bundesgerichts 5D_17/2020 vom 16. April 2020 E. 2.2 und BGE 141 III 569 E. 2.3.1

[5]    Sutter-Somm/Seiler, Art. 247 ZPO N. 6

[6]    Art. 247 Abs. 1 ZPO: Das Gericht wirkt durch entsprechende Fragen darauf hin, dass die Parteien ungenügende Angaben zum Sachverhalt ergänzen und die Beweismittel bezeichnen. Art. 56 ZPO: Ist das Vorbringen einer Partei unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich unvollständig, so gibt ihr das Gericht durch entsprechende Fragen Gelegenheit zur Klarstellung und zur Ergänzung.

[7]    BGE 144 III 117 E. 2.2 mit Verweis auf BGE 140 III 450 E. 3.2


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