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RBOG 2024 Nr. 37

Rückzugsfiktion bei unbekanntem Aufenthalt (Untertauchen) des Berufungsklägers; keine Zustellung der Vorladung durch Publikation im Amtsblatt erforderlich

Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO Art. 87 Abs. 4 StPO Art. 88 Abs. 1 StPO Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO


Aus den Erwägungen:

1.

1.1.

Die Vorschriften der Art. 84 ff. StPO über die Eröffnung und Zustellung gelten auch im Rechtsmittelverfahren[1]. Vorladungen ergehen grundsätzlich schriftlich[2]. Mitteilungen sind den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen[3]. Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben gemäss Art. 87 Abs. 2 StPO in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können. Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt[4]. Hat eine Partei persönlich zu einer Verhandlung zu erscheinen oder Verfahrensverhandlungen selbst vorzunehmen, so wird ihr die Mitteilung direkt zugestellt, wobei dem Rechtsbeistand eine Kopie zugestellt wird[5]. Art. 87 Abs. 4 StPO geht als lex specialis Art. 87 Abs. 3 StPO stets vor, weshalb eine Vorladung zur Berufungsverhandlung dem Beschuldigten persönlich zuzustellen ist. Die Vorladung kann deshalb nicht rechtsgültig an die Adresse der Verteidigung zugestellt werden, wenn der Aufenthaltsort des Beschuldigten unbekannt ist[6].

1.2.

Die Voraussetzungen für die Durchführung eines schriftlichen Verfahrens gemäss Art. 406 StPO sind vorliegend nicht erfüllt, weshalb der Beschuldigte persönlich zur mündlichen Berufungsverhandlung vorzuladen war. Er hatte als Berufungskläger zur Berufungsverhandlung zu erscheinen[7]. Der Beschuldigte hatte Kenntnis vom vorliegenden, durch ihn angestrengten Berufungsverfahren, bezeichnete jedoch weder mit der Berufungsbegründung, noch in der Folge – auch nicht nach Abschluss der Terminumfrage im Hinblick auf die mündliche Berufungsverhandlung – einen Zustellungsempfänger in der Schweiz. Die an ihn gerichtete persönliche Vorladung zur mündlichen Berufungsverhandlung konnte somit nicht rechtsgültig an die Adresse seiner Verteidigung zugestellt werden.

2.

2.1.

Grundsätzlich sieht Art. 88 Abs. 1 StPO die Publikation von Entscheiden in einem vom Bund oder dem Kanton bezeichneten Amtsblatt vor, wenn der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO legt jedoch fest, dass die Berufung als zurückgezogen gilt, wenn die Partei, die sie erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann. Diese Bestimmung stellt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine Spezialbestimmung für das Rechtsmittelverfahren dar, die Art. 88 Abs. 1 StPO verdrängt. Diese Auslegung entleert Art. 88 Abs. 1 StPO nicht seines Sinns. Denn alle anderen Verfahrensarten sind von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO nicht betroffen. Zudem beschlägt Art. 88 Abs. 1 StPO nicht nur Vorladungen, womit eine Vielzahl von Anwendungsfällen für diese Bestimmung verbleiben. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist im Berufungsverfahren keine Publikation der Vorladung erforderlich. Wenn die Partei, welche Berufung erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann, dann tritt die Rückzugsfiktion nach dem klaren Wortlaut von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sofort ein. Dies gilt für sämtliche Konstellationen, die in Art. 88 Abs. 1 StPO beschrieben werden[8].

2.2.

Die mündliche Berufungsverhandlung wurde vorliegend in Absprache mit Verteidigung und Staatsanwaltschaft festgesetzt. Die dem Berufungskläger gesandten persönlichen Vorladungen zur Berufungsverhandlung mittels Gerichtsurkunde konnten an die von seinem amtlichen Verteidiger in der Berufungserklärung angegebene Adresse nicht zugestellt werden. Das Obergericht versuchte über telefonische Erkundigung beim Einwohneramt, beim vormaligen Aufenthaltsort des Berufungsklägers und alsdann beim Migrationsamt die neue Adresse des Berufungsklägers ausfindig zu machen. Dies blieb ohne Erfolg. Auch die Verteidigung teilte mit, dass ihr der aktuelle Aufenthaltsort des Berufungsklägers nicht bekannt sei. Insofern erstaunt nicht, dass die Berufungserklärung unverändert die schon damals bereits seit Monaten nicht mehr gültige Adresse des Berufungsklägers aufweist.

Das Obergericht konnte somit trotz Nachforschungen keine gültige Zustelladresse des Berufungsklägers in Erfahrung bringen, womit der Berufungskläger zumindest bis zum Datum der anberaumten Berufungsverhandlung unbekannten Aufenthaltes blieb. Entgegen der Ansicht der Verteidigung hatte in Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung keine Zustellung durch Veröffentlichung in dem durch den Bund oder den Kanton bezeichneten Amtsblatt zu erfolgen. Damit konnte die persönliche Vorladung dem Berufungskläger nicht rechtswirksam zugestellt werden. Der Berufungskläger konnte nicht zur Berufungsverhandlung vorgeladen werden, womit die Rückzugsfiktion nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO und der klaren bundesgerichtlichen Rechtsprechung sofort eintrat.

3.

3.1.

Die Berufung oder Anschlussberufung gilt als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, der mündlichen Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt und sich auch nicht vertreten lässt[9]. Diese Bestimmung kommt nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung erst ins Spiel, wenn die Partei gültig vorgeladen werden konnte. In diesem Sinn ist Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO dem Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO zeitlich vorgelagert. Andernfalls hätte die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gar keinen eigenständigen Anwendungsbereich, was nicht dem Sinn und Zweck der Bestimmung entsprechen kann. Die in der Lehre vertretene Ansicht, dass keine Säumnis der beschuldigten Person vorliege, wenn die Verteidigung vorgeladen werden könne, geht gemäss Bundesgericht fehl. Erstens sei die Rückzugsfiktion gesetzlich explizit vorgesehen und von einer Vertretung sei, anders als in Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO, nicht die Rede. Zweitens erfolge die Vorladung vor der Berufungsverhandlung. Mit anderen Worten komme bei Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO zur Abwesenheit der beschuldigten Person an der Berufungsverhandlung erschwerend hinzu, dass sie nicht einmal gesetzmässig habe vorgeladen werden können[10]. Das Berufungsverfahren unterscheidet sich wesentlich vom erstinstanzlichen Verfahren, das vornehmlich auf ein materielles Urteil ausgerichtet ist. Dagegen unterliegt das Rechtsmittelverfahren weitgehend der Disposition der Parteien[11]. Es reicht nicht aus, wenn die beschuldigte Person der Verteidigung nach Kenntnis des erstinstanzlichen Urteils mitteilt, dass sie damit nicht einverstanden ist. Vielmehr muss der Wille, dass eine Überprüfung durch das Berufungsgericht erfolgt, während des Rechtsmittelverfahrens fortlaufend gegeben sein[12].

3.2.

Entgegen der Auffassung des amtlichen Verteidigers liegt hier kein Anwendungsfall von Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO vor, da der Berufungskläger nicht zur mündlichen Berufungsverhandlung vorgeladen werden konnte. Daran ändert weder, dass der amtliche Verteidiger die Vorladung dem Berufungskläger per E-Mail zugestellt und die Freundin des Berufungsklägers den Erhalt bestätigt habe, noch, dass der amtliche Verteidiger das Obergericht über eine von der Freundin des Berufungsklägers erhaltene, neue Anschrift des Berufungsklägers in Italien informierte. Der Berufungskläger wusste um das von ihm angestossene Berufungsverfahren und hätte sich bei seinem amtlichen Verteidiger über den Stand der Dinge informieren und seine neue Adresse zur Weiterleitung an das Gericht frühzeitig mitteilen können. Dies geschah alles nicht. Dass der Berufungskläger das Obergericht über seinen neuen Aufenthaltsort orientiert hätte, macht er selbst nicht einmal geltend. Vielmehr hat der Berufungskläger im Wissen um das laufende Berufungsverfahren weder seinem Verteidiger noch der Berufungsinstanz seine neue Adresse mitgeteilt und darüber orientiert, wo er zu erreichen ist. In Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung reicht es eben nicht aus, mitzuteilen, mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden zu sein. Angesichts der Umstände, dass der Berufungskläger aus der Schweiz ausgewiesen wurde und über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr weder ein Zustelldomizil und noch eine neue Adresse bekannt gab, sowie des Umstands, dass er nicht vorgeladen werden konnte, zeigte der Berufungskläger, dass er kein Interesse an einer Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils durch die Berufungsinstanz hatte. In diesem Fall greift die Rückzugsfiktion nach Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO.

Sodann ist ohne Belang, ob die Verteidigung Kontakt mit dem Berufungskläger hatte. Unerheblich ist auch, ob der Berufungskläger tatsächlich den Willen hatte, am Berufungsverfahren teilzunehmen. Denn es liegt in der Natur der Rückzugsfiktion, dass sie ohne Weiteres greift, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind[13]. Dies ist vorliegend der Fall.

4.

Folglich ist das Berufungsverfahren als durch Rückzug erledigt abzuschreiben.

[…]

Obergericht, 3. Abteilung, 30. April 2024, SBR.2024.5


[1]    Urteile des Bundesgerichts 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.4.2; 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.2

[2]    Art. 201 Abs. 1 StPO

[3]    Art. 87 Abs. 1 StPO

[4]    Art. 87 Abs. 3 StPO

[5]    Art. 87 Abs. 4 StPO

[6]    Urteil des Bundesgerichts 6B_988/2021 vom 22. Juni 2022 E. 1.5.2

[7]    Siehe Art. 405 Abs. 2 StPO

[8]    BGE 148 IV 362 E. 1.6.2

[9]    Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO

[10]  BGE 148 IV 362 E. 1.7.2

[11]  Vgl. BGE 148 IV 362 E. 1.1

[12]  BGE 149 IV 259 E. 2.4.2 mit Hinweis auf BGE 148 IV 362 E. 1.9.2; vgl. BGE 148 IV 362 E. 1.9.2

[13]  BGE 148 IV 362 E. 1.9.2


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