TVR 2002 Nr. 11
Privatrechtliche Baueinsprache und öffentlich-rechtlicher Rechtsschutz
1. Entspricht ein Bauvorhaben den einschlägigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften betreffend Abstände für Bauten und Grabungen, ist es kaum denkbar, dass von ihm derartig schwerwiegende Emissionen ausgehen, dass sich ein bundesprivatrechtlicher Beseitigungsanspruch rechtfertigt.
2. Das öffentliche Baurecht stellt ein Indiz für den Ortsgebrauch im Sinne von Art. 684 ZGB dar und die Einheit der Rechtsordnung verbietet ein beziehungsloses Nebeneinander von privatem und öffentlichem Recht. Entspricht die detaillierte öffentlich-rechtliche Ordnung den Zielen und Planungsgrundsätzen der Raumplanung, bedeutet eine Verneinung einer übermässigen Einwirkung keine Vereitelung von Bundesrecht.
Der Nachbar eines Bauvorhabens erhob sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche Einsprache. Die Gemeinde, das DBU und das Verwaltungsgericht weisen ab. Letzteres begnügte sich in den Erwägungen zur privatrechtlichen Einsprache mit dem Hinweis, die negativen Immissionen seien hinzunehmen, soweit das im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften geschehe (Entscheid vom 22. Mai 2002). Der Nachbar gelangte mit Berufung ans Bundesgericht.
Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Baubewilligungsentscheid, in welchem gestützt auf § 91 PBG zugleich auch die privatrechtliche Einsprache des Berufungsklägers im Sinne von Art. 684 ZGB beziehungsweise sein entsprechendes Begehren, der Berufungsbeklagten sei die Erstellung der geplanten Baute zu verbieten, beurteilt worden ist. Die vorliegende Berufung richtet sich gegen diesen Entscheid, soweit der zivilrechtliche Anspruch betroffen ist. Der Berufungskläger beziffert den Streitwert auf mindestens Fr. 20 000.– (Minderwert seines Grundstücks beziehungsweise kapitalisierte Wohnwerteinbusse von Fr. 1000.– pro Jahr).Auf die Berufung ist einzutreten.
2.1 Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hat sich im Wesentlichen zur öffentlich-rechtlichen Zulässigkeit des Bauvorhabens geäussert und es hat diese bestätigt. Zum nachbarrechtlichen Aspekt hat es ausgeführt, es liege zwar auf der Hand, dass sich der Berufungskläger mit einem Gebäudeabstand von nur 8 m durch einen möglichen Verlust der Intimsphäre und durch die mögliche Verschlechterung der Besonnung beeinträchtigt fühle. Indes sei in einer Bauzone grundsätzlich beides hinzunehmen, soweit dies im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften geschehe.
2.2 Der Berufungskläger rügt die Verletzung von Art. 8 und 684 ZGB. Obwohl der öffentlich- und der privatrechtliche Rechtsschutz voneinander unabhängig und deshalb auch eigenständig zu beurteilen seien, habe das Verwaltungsgericht für die zivilrechtliche Seite der Streitigkeit weder Sachverhaltsfeststellungen getroffen noch die geltend gemachten negativen Immissionen beurteilt, und es habe sich auch nicht mit den unterbreiteten Beweisofferten befasst.
2.3 Es trifft zu, dass die Vorinstanz hinsichtlich des Zivilpunktes keine (eigenständigen) Sachverhaltsfeststellungen getroffen, sondern lediglich von einem möglichen Verlust der Intimsphäre und der möglichen Beeinträchtigung der Besonnung durch den geplanten Neubau gesprochen und damit einzig die subjektive Befindlichkeit des Berufungsklägers wiedergegeben hat. Mit der anschliessenden Erwägung, solche Nachteile seien hinzunehmen, soweit dies im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften geschehe, hat die Vorinstanz die Anwendung von Art. 684 ZGB zwar nicht schlechthin, aber sinngemäss dann ausgeschlossen, wenn der Kanton über eine einschlägige öffentlich-rechtliche Regelung verfügt und das Bauvorhaben sich an diese Vorschriften hält. Im Folgenden ist zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht damit Bundesrecht verletzt hat.
2.4 Die Kantone sind befugt, die Abstände festzusetzen, die bei Grabungen und Bauten zu beobachten sind (Art. 686 Abs. 1 ZGB). Es bleibt ihnen vorbehalten, weitere Bauvorschriften aufzustellen (Art. 686 Abs. 2 ZGB).
Bei Art. 686 ZGB handelt es sich um einen echten Vorbehalt (MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 81 ff. zu Art. 685/686 ZGB; REY, Basler Kommentar, N. 3 und 20 zu Art. 685/686 ZGB), der die Kantone – mit Ausnahme der in Art. 685 ZGB geregelten Materie – zur Ordnung des gesamten privaten Baurechts befugt. Ob damit eine exklusive Rechtsetzungskompetenz der Kantone begründet wird, ist umstritten; diesbezüglich kann auf die in BGE 126 III 452 im Zusammenhang mit dem Pflanzenrecht (Art. 688 ZGB) dargestellte Kontroverse verwiesen werden (E. 3b S. 457 f.).
Während früher die meisten Kantone von der erwähnten Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht und in ihren Einführungsgesetzen Abstands-, aber auch weitere Bauvorschriften als kantonales Privatrecht erlassen haben, gelangt heute fast ausschliesslich (kantonales) öffentliches Recht zur Anwendung (BÄUMLIN, Privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Immissionsschutz, in: BTJR 1968, S. 108 f.; RASELLI, Berührungspunkte des privaten und öffentlichen Immissionsschutzes, in: URP 1997, S. 274 f.). Nicht anders verhält es sich im Kanton Thurgau: Die Regelung im vormaligen Einführungsgesetz (§ 86 ff. aEGZGB/TG; vgl. SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, Die kantonalen Erlasse, Band VI, 2. Teil, Zürich 1941, S. 690) ist durch diejenige im PGB und den kommunalen Baureglementen ersetzt worden (vgl. § 12 Abs. 2 Ziff. 4 und 5 PBG). Dennoch bleibt die Frage bedeutsam, ob Art. 686 ZGB zu Gunsten der Kantone eine exklusive Rechtsetzungskompetenz begründet: Diesfalls wäre Art. 684 ZGB nämlich im Rahmen des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB derogiert und somit auch dann nicht anwendbar, wenn ein Kanton überhaupt keine oder jedenfalls keine privatrechtlichen Bestimmungen erlassen hat, so dass sich in der Konsequenz auch die Frage des Verhältnisses des die Gebäudeabstände regelnden kantonalen öffentlichen Rechts zum zivilrechtlichen Immissionsschutz (Art. 684 ZGB) nicht stellte.
2.5 In BGE 126 III 452 hat das Bundesgericht entschieden, dass grundsätzlich auch so genannte negative Immissionen wie Schattenwurf und Lichtentzug von Art. 684 ZGB erfasst werden (E. 2c S. 455 ff.) und dass die Rechtsetzungskompetenz, die den Kantonen gemäss Art. 688 ZGB im Bereich des Pflanzenrechts zusteht, die Anwendung von Art. 679 und 684 ZGB nicht ausschliesse (E. 3c S. 458 ff.). Dieser Entscheid ist in der Lehre mehrheitlich positiv aufgenommen worden (SCHNYDER, in: Baurecht 2001, S. 82; SCHMID-TSCHIRREN, in: recht 2001, S. 238 ff.; ablehnend hingegen PIOTET, in: AJP 2001, S. 594 ff.). In einem obiter dictum ist allerdings festgehalten worden, im Unterschied zum Pflanzenrecht stelle heute das kantonale Baurecht meist ein umfassendes Regelwerk dar und dem berechtigten Immissionsschutz der Nachbarn werde im Baubewilligungsverfahren Rechnung getragen; es sei kaum denkbar, dass von einer rechtmässig erstellten Baute derart schwerwiegende Emissionen ausgingen, dass sich ein bundesrechtlicher Beseitigungsanspruch rechtfertige (E. 3c/cc S. 460). Dies bedarf freilich der Präzisierung.
2.6 Wie erwähnt, steht dem Bundeszivilrecht heute in den meisten Fällen – so auch vorliegend – nicht mehr gestützt auf Art. 686 ZGB erlassenes kantonales Privatrecht, sondern öffentliches Recht gegenüber. Es stellt sich deshalb primär die Frage des Verhältnisses zwischen Art. 684 ZGB und dem öffentlichen Baurecht.
Die Kantone werden in ihren öffentlich-rechtlichen Befugnissen durch das Bundeszivilrecht nicht beschränkt (Art. 6 ZGB). Das kantonale öffentliche Recht darf zwar nicht Sinn und Zweck des Bundeszivilrechts widersprechen oder gar dessen Anwendung vereiteln (HUBER, Berner Kommentar, N. 213 und 214 zu Art. 6 ZGB), es verfügt jedoch über «expansive Kraft» (HUBER, a.a.O., N. 70 ff. zu Art. 6 ZGB) und bestimmt mittels Bauordnung und Zonenplan mehr und mehr, was nach Lage und Ortsgebrauch an Einwirkungen zulässig ist. Obwohl die öffentlichen Interessen an den Grenz- und Gebäudeabständen primär auf den Gebieten der Feuer- und Gesundheitspolizei, der guten Gestaltung der Siedlungen und der Ästhetik liegen, sollen diese Vorschriften auch die mannigfaltigen Einflüsse von Bauten und ihrer Benutzung auf die Nachbargrundstücke mildern (BGE 119 la 113 E. 3b S. 117).
Freilich verhält es sich nicht so, dass Zonenordnungen und Baureglemente die Lage der Grundstücke und den Ortsgebrauch im Sinne von Art. 684 ZGB geradezu verbindlich festlegen würden (MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 112 zu Art. 684 ZGB). Allerdings bildet das öffentliche Baurecht einerseits ein Indiz für den Ortsgebrauch (vgl. BGE 126 III 223 E. 3c S. 225; MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 113; AUER, Neuere Entwicklungen im privatrechtlichen Immissionsschutz, Diss. Zürich 1997, S. 15), und andererseits ist es bei der Anwendung von Art. 684 ZGB insofern mitzubedenken, als die Einheit der Rechtsordnung ein beziehungsloses Nebeneinander von privatem und öffentlichem Recht verbietet (BGE 126 III 223 E. 3c S. 226; RASELLI, a.a.O., S. 284 ff.; HÄNNI, Planungs-, Bau- und besonders Umweltschutzrecht, Bern 2002, S. 493). Art. 6 Abs. 1 ZGB stellt in diesem Sinn nicht nur einen unechten Vorbehalt zu Gunsten der Kantone dar, sondern verpflichtet auch zur Harmonisierung von Bundeszivil- und kantonalem öffentlichen Recht (MARTI, Zürcher Kommentar, N. 25 und 52 ff. zu Art. 6 ZGB); darauf hat das Bundesgericht bereits im Zusammenhang mit Lärmimmissionen hingewiesen (BGE 126 III 223 E. 3c S. 225 ff.). Freilich ist nicht zu verkennen, dass die Ausweitung des öffentlichen Baurechts tendenziell auf Kosten des privatrechtlichen Immissionsschutzes gehen kann. Dies ist jedoch insoweit sachlich gerechtfertigt und hinzunehmen, als man es mit detaillierten Zonenordnungen und Baureglementen zu tun hat. Nur diese vermögen der übergeordneten Zielsetzung der Raumplanung (vgl. Art. 1 RPG) und dabei insbesondere dem Grundsatz der rationalen, das ganze Siedlungsgebiet umfassenden Planung (vgl. Art. 3 RPG) zu genügen. Wird daher das Vorliegen einer übermässigen Einwirkung im Sinne von Art. 684 ZGB mit dem Argument verneint, das Bauvorhaben entspreche den massgebenden öffentlich-rechtlichen (Bauabstands-)Normen, und handelt es sich dabei um Vorschriften, die im Rahmen einer detaillierten, den Zielen und Planungsgrundsätzen des Raumplanungsrechts entsprechenden Bau- und Zonenordnung erlassen worden sind, bedeutet das in aller Regel keine Vereitelung von Bundesrecht (in diesem Sinn auch: MEIER-HAYOZ, a.a.O., N. 311 zu Art. 684 ZGB).
2.7 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist zusammenfassend festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht kein Bundesrecht verletzte, indem es die übermässige Einwirkung im Sinne von Art. 684 ZGB mit der Begründung verneint hat, das Bauvorhaben entspreche den massgebenden öffentlich-rechtlichen Abstandsvorschriften. Ebenso wenig ist Art. 8 ZGB verletzt, weil das Verwaltungsgericht bei diesem Ergebnis nicht gehalten war, eigene Sachverhaltsfeststellungen zur privatrechtlichen Einsprache zu treffen und die diesbezüglich beantragten Beweise abzunehmen. Die Berufung ist abzuweisen.
BGE vom 20. Dezember 2002